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Das Strafrecht soll nach dem Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen wieder zur Ultima Ratio (letztes Mittel) werden. Das ist erfreulich, dem Ansatz widerspricht allerdings, dass Teile des Tierschutzrechts in das Strafrecht überführt werden sollen und dass das maximale Strafmaß erhöht werden soll. Dafür soll das strafrechtliche Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB gestrichen werden, damit Ärztinnen und Ärzte öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.

Es soll die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften eingeführt werden, damit die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet werden kann. Es dürfte daher zu erwarten sein, dass auch die Strafbarkeit der Betäubungsmitteldelikte im Hinblick auf Cannabis entsprechend angepasst wird.

Der Straftatbestand der Behinderung der Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz (§ 119 Abs. 1 BetrVG) soll von einem Antragsdelikt zu einem Offizialdelikt hochgestuft werden.

Nach dem Koalitionsvertrag soll eine Regelung geschaffen werden, dass Vernehmungen und Hauptverhandlung in Bild und Ton aufgezeichnet werden müssen (audiovisuelle Beweisaufnahme). Gleichzeitig sollen die Gerichtsverfahren schneller und effizienter werden, ohne dass dabei aber die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung beeinträchtigt werden.

Die Regelungen zum Einsatz von V-Personen, zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung, zur Online-Durchsuchung und zur anlasslosen und verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung sollen überarbeitet werden. Die staatlich veranlasste Tatprovokation einer Straftat soll grundsätzlich verboten werden.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, „Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit vom 24.11.2021

Eine überaus lesenswerte Prozessdokumentation hat der Kollege Jochen Thielmann aus Wuppertal über die Strafverfahren gegen mehrere Fans des Wuppertaler Sportvereins in der Maiausgabe der Online-Zeitschrift „Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht“ (HRR-Strafrecht) veröffentlicht. Anlässlich eines Fußballspiels zwischen Rot Weiß Essen und dem Wuppertaler SV sollen die dreizehn beschuldigten Fans Anhänger des gegnerischen Fußballvereins im Essener Bahnhof angegriffen haben. Der Lebenssachverhalt und die Beweislage waren für alle Beschuldigten identisch, der Strafvorwurf lautete auf Landfriedensbruch. War der Ausgangspunkt und die Beweislage auch für alle Beschuldigten gleich, so variierten die Resultate der Verfahren in einem erheblichen Ausmaß. Ein Verfahren wurde wegen fehlender geeigneter Beweismittel nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Der erste Angeklagte wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, die nächsten beiden Angeklagten wurden jeweils zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Alle bis zu diesem Zeitpunkt Angeklagten versuchten sich selbst ohne Hilfe eines Rechtsanwalts zu verteidigen. Von den weiteren -nun jeweils von einem Verteidiger unterstützten- Angeklagten erhielt einer ebenfalls eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten und einer eine Geldstrafe, beide Urteile wurden mit der Berufung angegriffen und vom Landgericht in der zweiten Instanz eingestellt. Die Verfahren gegen andere Beschuldigte wurden wegen geringer Schuld teilweise mit teilweise ohne Auflagen eingestellt. In einem Fall wurden sogar die Verteidigerkosten der Staatskasse auferlegt. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Diese unterschiedlichen und mittlerweile rechtskräftigen Ergebnisse der jeweiligen Strafverfahren sind bereits bitter genug. Aber die vom Kollegen Thielmann geschilderten Fälle weisen noch andere Probleme und einige Kuriositäten auf:

Die Aussagen der beiden Polizeibeamten als Hauptbelastungszeugen variierten in den Verfahren offenbar erheblich, die Belastungstendenz nahm offenbar mit der Anwesenheit von Verteidigern bei den Gerichtsverhandlungen ab. Zwei der von zwei unterschiedlichen Richtern verfasste Urteile wiesen exakt denselben Wortlaut auf, hier hatte anscheinend eine Richterin die Urteilsbegründung eines anderen Richters komplett abgeschrieben. Die Staatsanwaltschaft legte nur gegen einen der drei Freisprüche Berufung ein. Auch diese Berufung wurde zurückgenommen. Der Fall zeigt demnach eine Fülle von Problemen, die wohl jeder Verteidiger aus dem Alltag kennt, wie z. B. dass Angeklagte, die eigentlich freizusprechen wären, zu einer Einstellung gedrängt werden, dass Anträge auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers trotz schwieriger Beweislage mit floskelhaften Begründungen abgelehnt werden und dass die Strafhöhe je nach Kammer erheblich variieren kann. Zudem wird die Befürchtung bestärkt, dass Angeklagte ohne kompetenten Verteidiger ihre Rechte in dem Verfahren nicht effektiv durchsetzen können. Insoweit kann man nur hoffen, dass eine Regelung zur Prozesskostenhilfe für Beschuldigte im Strafverfahren -wie sie auf europäischer Ebene diskutiert wird- möglichst bald eingeführt wird. Aber lesen Sie selbst: „Wehret den Anfängen – oder: Vom missglückten Versuch, ein Exempel zu Statuieren“ von Jochen Thielmann.

Fundstelle: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Jochen Thielmann in HRR-Strafrecht, Heft 5/2014, S. 179 – 184, „Wehret den Anfängen – oder: Vom missglückten Versuch, ein Exempel zu Statuieren“

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