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Die nachträgliche Sicherheitsverwahrung beschäftigt weiter die Gerichte. Die derzeit geltende Regelung des § 66b StGB ist verfassungswidrig. Das dürfte spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 04.05.2011, Az. 2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 571/10, 1152/10, allgemein bekannt sein. Das Bundesverfassungsgericht entschied mit dem Urteil vom 04.05.2011 die 5 von Untergebrachten eingereichten Verfassungsbeschwerden in der Weise, dass die Sicherungsverwahrung nicht mit dem Freiheitsgrundrecht nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG), dem Vertrauensschutz nach Art. 20 Abs. 3 GG und dem Rückwirkungsverbot nach Art. 104 Abs. 1 GG, 20  vereinbar sei. Die Anforderungen an das verfassungsrechtliche Abstandsgebot werden nicht eingehalten. Das Abstandsgebot besagt, dass Strafvollzug und der therapeutische Maßregelvollzug der Sicherungsverwahrung voneinander getrennt werden müssen, da sie unterschiedliche Zwecke verfolgen. Die Freiheitsstrafe dient der Vergeltung schuldhaft begangener Straftaten, die Sicherungsverwahrung hat hingegen den präventiven Zweck, neue Straftaten zu verhindern. Die alte Regelung bleibt laut dem Urteil aber bis zur Neuregelung längstens bis zum 31.05.2013 in Kraft, um ein rechtliches Vakuum zu verhindern. Für die Anwendung der verfassungswidrigen Regelung stellt das BVerfG aber strenge Prüfungsanforderungen auf, u. a. muss die Verhältnismäßigkeit strikt geprüft werden und eine psychische Störung nach dem Therapieunterbringungsgesetz vorliegen. Zudem muss die hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen abzuleiten sein.

Ursprünglich hatte das BVerfG die Regelungen zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung mit Urteil vom 05.02.2004, Az. 2 BvR 2029/01, für verfassungskonform gehalten. Damals hatte es noch erklärt, dass die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG auch durch eine lang andauernde Unterbringung des Verwahrten nicht zwingend verletzt werde, der Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG nicht eröffnet sei und die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung im Einklang mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 3 GG) stünde. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschied dann im Verfahren M. gegen Deutschland mit Urteil vom 17.12.2009, Beschwerdenummer 19359/04, dass die Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen das Recht auf Freiheit nach Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen das Rückwirkungsverbot nach Art. 7 EMRK verstoßen. Am 13.01.2011 wurde die Bundesrepublik erneut vom EGMR wegen Verstoßes gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit nach Art. 5 EMRK im Fall Haidn gegen Deutschland verurteilt (Beschwerdenr. 6587/04), weil das Landgericht Passau ohne ausreichende Rechtsgrundlage die Sicherungsverwahrung im Juni 2005 nachträglich angeordnet hatte. In drei weiteren Urteilen vom 13.01.2011 des EGMR in den Fällen Kallweit gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 17792/07, Mautes gegen Deutschland, Beschwerdenr. 20008/07, und Schummer gegen Deutschland, Beschwerdenr. 27360/04 und 42225/07, wurde Deutschland ebenfalls wegen der nachträglichen Verlängerung der Unterbringung in Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen Art. 5 EMRK (Freiheit) und Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) verurteilt. Die Beschwerdeführer erhielten als gerechte Entschädigung zwischen 25.000 € und 70.000 €. Diese Rechtsprechung bekräftigte der EGMR durch Urteil vom 14.04.2011, Beschwerdenummer 30060/04, im Fall Jendrowiak gegen Deutschland mit der im Wesentlichen gleichen Begründung, dieses Mal erhielt der Beschwerdeführer 27.467,00 € als Entschädigung.

Das Bundesverfassungsgericht revidierte daraufhin seine Entscheidung vom 05.02.2004 und entschied -wie oben dargelegt- am 04.05.2011, dass die Regelungen der Sicherungsverwahrung auch die Grundrechte des Grundgesetzes verletzten. Es begründete seinen Kurswechsel mit dem Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes, diese erfordere keine schematische Angleichung wohl aber eine Aufnahme der Wertungen der Urteile des EGMR. Das BVerfG betont in der letzten Entscheidung, dass die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung freiheitsorientiert und therapiegerichtet sein müsse. Es bedürfe eines Gesamtkonzepts mit klar therapeutischer Ausrichtung. Darüber hinaus muss die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht ordnete weiterhin hinsichtlich der sogenannten Altfälle an, dass die zuständigen Vollstreckungsgerichte unverzüglich zu überprüfen haben, ob die Voraussetzungen der Fortdauer einer Sicherungsverwahrung gegeben sind und gegebenenfalls die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 anzuordnen. Mit Beschluss vom 08.06.2011, Az. 2 BvR 2846/09 unterstrich das Bundesverfassungsgericht noch einmal diese Rechtsprechung.

Nichtsdestotrotz  kassiert die Bundesrepublik weiterhin eine Niederlage nach der anderen beim EGMR. Zuletzt stellte dieser mit Kammerurteil vom 21.11.2011, Beschwerdenummer 48038/06, im verfahren Schönbrod gegen Deutschland fest, dass die Sicherheitsverwahrung ohne gerichtliche Vollstreckungsanordnung gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstößt. Denn eine Freiheitsentziehung muss als willkürlich gelten, wenn die Anordnung der Sicherheitsverwahrung nicht zügig nach der Verbüßung der Haftstrafe erfolgt, selbst wenn deren Verhängung an sich weder gegen nationales Recht noch gegen die EMRK verstößt. Die Bundesrepublik musste 5.000 € Schadenersatz für immateriellen Schaden sowie die Kosten des Beschwerdeführers zahlen. Am 24.11.2011 begrüßte der EGMR zwar, dass das Bundesverfassungsgericht die Überprüfung der Altfälle angeordnet hat, verurteilte die Bundesrepublik Deutschland aber erneut zur Zahlung von 20.000 € Entschädigung wegen Verstoßes gegen Art. 5 EMRK und Art. 7 EMRK im Verfahren O.H. gegen Deutschland, Beschwerdenummer: 4646/08.

Zu betonen ist dabei allerdings, dass es sich bei den oben dargestellten vom EGMR entschiedenen Beschwerden um Fälle der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung handelt, die Anordnung der Sicherungsverwahrung im ursprünglichen Urteil bleibt hingegen grundsätzlich zulässig, solange die Sicherungsverwahrung die gesetzliche Höchstdauer nicht überschreitet (vgl. EGMR, Urteil vom 09.06.2011, Schmitz gegen Deutschland, Beschwerdenummer 30493/04 und Urteil vom 09.06.2011, Mork gegen Deutschland, Beschwerdenummern 31047/04 und 43386/08).

Die Rechtsprechung des EGMR wird anscheinend auch zunehmend von den deutschen Gerichten berücksichtigt, so entschied der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 08.11.2011, Az. 1 StR 231/11, dass eine gewisse Gefährlichkeit des Verurteilten zur Anordnung der nachträglichen Sicherheitsverwahrung nicht ausreiche. In dem konkreten Fall hielt der BGH eine ausreichende Selbstwertgefühl vermittelnde Therapie im Rahmen der Führungsaufsicht für hinreichend.

Fundstellen: Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 04.05.2011, Az. 2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 571/10, 1152/10; Beschluss vom 08.06.201, Az. 2 BvR 2846/09; Beschluss vom 05.02.2004, Az. 2 BvR 2029/01; Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 17.12.2009, M gegen Deutschland, Beschwerdenummer 19359/04 (englisch), Pressemitteilung vom 17.12.2009 (deutsch); Urteil vom 13.01.2011, Haidn gegen Deutschland, Beschwerdenr. 6587/04, Pressemitteilung vom 13.01.2011 (deutsch); Urteile vom 13.01.2011 Kallweit gegen Deutschland, Beschwerdenr. 17792/07; Mautes gegen Deutschland, Beschwerdenummer 20008/07; Schummer gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 27360/04 und 42225/07, Pressemitteilung vom 13.01.2011 (deutsch); Urteil vom 14.04.2011, Fall Jendrowiak gegen Deutschland, Beschwerdenummer 30060/04 (englisch), Pressemitteilung vom 14.04.2011 (deutsch); Urteil vom 09.06.2011 (englisch), Schmitz gegen Deutschland, Beschwerdenummer 30493/04; Urteil vom 09.06.2011, Mork gegen Deutschland, Beschwerdenummern 31047/04 und 43386/08; Urteil vom 21.11.2011, Schönbrod gegen Deutschland, Beschwerdenummer 48038/06 (englisch), Pressemitteilung vom 21.11.2011; Urteil vom 24.11.2011, O.H. gegen Deutschland, Beschwerdenummer: 4646/08 (englisch); Pressemitteilung vom 24.11.2011 (deutsch); Bundesgerichtshof, Urteil vom 08.11.2011, Az. 1 StR 231/11

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Bundesrepublik Deutschland mit Urteil vom 08.11.2011, Beschwerdenummern 8080/08 und 8577/08, einstimmig  wegen Freiheitsentziehung und Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit verurteilt. Die zwei Beschwerdeführer waren im Juni 2007 zum G8-Gipfel in Heiligendamm  nahe Rostock gereist, um dort an den Demonstrationen teilzunehmen. In Rostock wurden sie auf einem Parkplatz vor einer Justizvollzugsanstalt kontrolliert. Bei der Kontrolle fanden die Polizisten Transparente mit den Aufschriften „free all now“ und „Freedom for all prisoners“ im Besitz der Beschwerdeführer. Daraufhin wurden die Beschwerdeführer für fast 6 Tage mit der Begründung in Polizeigewahrsam genommen, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass sie in Freiheit Straftaten begehen würden. Das Amtsgericht Rostock bestätigte diese Maßnahme, da durch die Transparente belegt sei, dass die Beschwerdeführer zur Befreiung von Gefangenen aufrufen wollten. Das Landgericht Rostock und das Oberlandesgericht wiesen die von den Beschwerdeführern  eingelegten Rechtsmittel gegen die vorbeugenden Festnahmen umgehend zurück. Wobei selbst das Oberlandesgericht Rostock in seinem konventionswidrigen Beschluss vom 07.06.2007, Az. 3 W 83/07, in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (Meinungsfreiheit) festhielt: „Dem Betroffenen ist zuzugeben, dass die Aufschriften auf den Transparenten mehrdeutig sind.“ Die eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde ebenfalls abgelehnt, nachdem es das Bundesverfassungsgericht bereits  abgelehnt hatte, eine Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung herbeizuführen. Das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführer wurde später eingestellt. Als Rechtsgrundlage für die mehrtägige Ingewahrsamnahme diente § 55 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (SOG-MV). Nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG-MV kann eine Person nur in Gewahrsam genommen werden, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern. Nach dem nun ergangenen Kammerurteil des EGMR verstieß die Festnahme auf Grundlage von § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG-MV im konkreten Fall gegen Artikel 5 Abs. 1 und Art. 11  der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Artikel 5 Abs. 1 EMRK regelt das Recht auf Freiheit und Sicherheit, Artikel 11 die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Der EGMR hält die Ingewahrsamnahme für nicht notwendig, denn es hätte vollkommen ausgereicht, die Plakate zu beschlagnahmen. Das wäre auch auf Grundlage von  § 61 Abs. 1 SOG-MV möglich gewesen. Die vorbeugende Ingewahrsamnahme lediglich zum Zwecke mögliche künftige Straftaten zu verhindern, verstoße laut dem Urteil zudem auch deshalb gegen Art. 5 Abs. 1 EGMR, weil dadurch in die geschützten Rechte der Beschwerdeführer in unzulässiger Weise eingegriffen werde. Die mehrtägige Ingewahrsahmnahme mit dem weiteren Zweck, zu verhindern, dass die Beschwerdeführer ihre mitgeführten Transparente auf der Demonstration zeigen konnten, war zudem ein menschenrechtswidriger und unverhältnismäßiger Eingriff in die Versammlungsfreiheit. Die Beschwerdeführer beabsichtigten zulässiger Weise mit den Plakaten gegen das Sicherheitsmanagement der Polizei, insbesondere die hohe Zahl der Festnahmen, zu protestieren. Die Bundesrepublik muss nun je 3000,00 € Schadenersatz für immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) an die Beschwerdeführer zahlen und deren Kosten in Höhe von je zirka 4.500 € ausgleichen (vgl. Art. 41 EGMR). Es ist schon einiger Maßen bestürzend, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden (Az. 2 BvR 1521/07 und 2 BvR 1520/07) der zu Unrecht Inhaftieren laut Urteil vom 08.11.2011 ohne Begründung am 06.08.2007 abgelehnt hat und erst der EGMR die Sache durch das einstimmig ergangene Urteil über vier Jahre nach der Grundrechtsverletzung wieder geraderücken muss.

Fundstellen: Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 08.11.2011, „CASE OF SCHWABE AND M.G. v. GERMANY“, Beschwerdenummern 8080/08 und 8577/08 (Urteil in englischer Sprache); Presseerklärung vom 01.12.2011 (in deutscher Sprache);  Oberlandesgericht Rostock, Beschluss vom 07.06.2007,  Az. 3 W 83/07 (welcher laut dem oben zitierten Urteil des EGMR gegen die EMRK verstößt)

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