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Am 22.10.2023 hatte ich über die Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht vom 19.10.2023 berichtet. Das Bundesverwaltungsgericht hatte entschieden, dass auch Zwangsadoptionen in der DDR verwaltungsrechtlich rehabilitiert werden können (Blogartikel vom 22.10.2023: „Bundesverwaltungsgericht: Zwangsadoptionen können für rechtsstaatswidrig erklärt werden“). Mittlerweile liegen auch die schriftlichen Entscheidungsgründe vor:

Das Bundesverwaltungsgericht stellt in dem Urteil vom 19.10.2023, Az. BVerwG 8 C 6/22, klar, dass Adoptionen nach DDR-Recht mit der Maßgabe verwaltungsrechtlich rehabilitiert werden können, dass die Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit -anstelle der sonst üblichen  Aufhebung- ausgesprochen wird.

Für diese Auslegung sprechen auch die Regelungen des Einigungsvertrages. Artikel 17 des Einigungsvertrages sieht die Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechts-Regimes und eine entsprechende Entschädigungsregel vor. Artikel 19 S. 2 des Einigungsvertrages sieht die Möglichkeit der Aufhebung in der DDR ergangener Verwaltungsakte vor, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sind. Zudem verdränge die Übergangsregelung des Art. 234 § 13 EGBGB nicht schlechthin die verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsvorschriften, es werde nur die Aufhebung als Rechtsfolge der Rehabilitierung ausgeschlossen. Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG spreche dafür, dass Betroffene einer Zwangsadoption die mit einer verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung verbundenen Versorgungsansprüchen in Anspruch nehmen können. Eine Rehabilitierung könne bei Vorliegen der Voraussetzungen daher grundsätzlich erfolgen und die Rechtsstaatswidrigkeit der Adoption gerichtlich festgestellt werden.

Im vorliegenden Fall hatte der leibliche Vater des Klägers nach dem Tod der Mutter, die bei der Scheidung das Erziehungsrecht erhalten hatte, unter den Hinweis auf seinen Ausreiseantrag die Übertragung des Erziehungsrechts auf sich beantragt. Er wolle zusammen mit seinem Sohn in die Bundesrepublik ausreisen. Weder dulde der Vater noch wünsche er eine kommunistische Erziehung seines Sohnes. Der Antrag auf Übertragung des Erziehungsrechts des Vaters wurde im Jahr 1977 ebenso wie dessen Ausreiseantrag abgelehnt. In der Folge wurde der Vater noch im selben Jahr unter anderem wegen staatsfeindlicher Hetze im schweren Fall und versuchter Republikflucht zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Während der Haft des Vaters des Klägers hat die Jugendhilfe Gera beschlossen, den Kläger in eine fremde Familie zu vermitteln, bevor der Vater aus dem Strafvollzug entlassen werde. Im Dezember 1977 wurde der Kläger in eine Pflegefamilie vermittelt. Im Februar 1978 wurde der Vater aus der Haft in die Bundesrepublik Deutschland ohne seinen Sohn entlassen. Im Jahr 1982 wurde der Kläger gegen den Willen des leiblichen Vaters von den Pflegeeltern adoptiert.

Im Jahr 1984 wurde der Kläger wegen Misshandlungen durch den Adoptivvater in einem Kinderheim untergebracht. Der Adoptivvater wurde wegen Verletzung seiner Erziehungspflicht in Form der Misshandlung des Klägers zu einer Bewährungsstrafe von 8 Monaten verurteilt. Der Kläger wurde in den folgenden Jahren in verschiedenen Spezialheimen und Jugendwerkhöfen untergebracht. Bis heute leidet der Kläger wegen der traumatischen Erlebnisse rund um die Adoption gesundheitlich an innerer Unruhe, Schlafstörungen, Aggressionsanfällen, Zwangsgedanken, Angstzuständen, wiederkehrenden traumatischen Erinnerungen und Verfolgungsangst.

Im vorliegenden Fall sei die Adoption als rechtsstaatswidrig anzusehen, weil die Adoption nicht am Kindeswohl orientiert war, sondern zum Nachteil des Klägers zu politischen Zwecken missbraucht wurde. Sie diente dazu, das betroffene Kind seinem Vater zu entziehen, seine Ausreise gemeinsam mit seinem Vater zu verhindern und eine dessen Wünschen widersprechende sozialistische Erziehung in einer linien-treuen Familie zu gewährleisten. Dieses Vorgehen war von der Absicht getragen, nicht nur den Vater des Klägers, sondern auch diesen selbst bewusst zu benachteiligen. Der Kläger wurde daher vom Bundesverwaltungsgericht verwaltungsrechtlich rehabilitiert.

Fundstelle: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19.10.2023, Az. BVerwG 8 C 6/22

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat in dem Beschluss vom 23.08.2023, Az. 49/22, entscheiden, dass die Rehabilitierungsgerichte die Haftähnlichkeit von Lebens- oder Arbeitsbedingungen anhand der konkreten Bedingungen des Einzelfalls zu prüfen haben, sie können sich nicht darauf zurückziehen, dass nur (klassische) Freiheitsentziehungen wie z. B. Haftstrafen vom strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz erfasst werden können. Denn das Leben unter haftähnlichen Bedingungen oder Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen sind dem Gesetze nach der Freiheitsentziehung gleichgestellt.

Der Betroffene hatte nach einer Verurteilung durch das Stadtgericht von Berlin u. a. wegen des Vorwurfs des staatsgefährdenden Gewaltaktes und der Vorbereitung einer Republikflucht eine zweijährige Haftstrafe verbüßen müssen. Hierfür war er auch rehabilitiert worden. Er erhielt aber zudem ein sogenanntes Berlinverbot im Anschluss an die verbüßte Haft. Er war für mehrere Jahre verpflichtet, seinen Aufenthalt in Gröditz im Kreis Riesa zu nehmen und im dortigen Stahlwerk zu arbeiten. Der Betroffene sei aus der Haftanstalt durch Mitarbeiter der Stasi zwangsweise nach Gröditz verbracht worden. Ihm sei Gröditz als Aufenthaltsort und ein bestimmter, ungeeigneter Raum als Wohnung zugewiesen worden. Der Betroffene habe zwangsweise Arbeit im Stahlwerk leisten müssen, welche unter ständiger Bewachung erfolgt sei. Für den Fall des Verlassens von Wohnort oder Arbeitsplatz sei dem Betroffenen die erneute Inhaftierung angedroht worden. Während dieser Zeit sei es zu Ansprachen und Schikanen durch Stasi-Mitarbeiter gekommen. Der Betroffene sei ständig durch die Volkspolizei kontrolliert und durch die Stasi überwacht worden.

Die Rehabilitierungsgerichte hatten den Antrag auf Rehabilitierung aber unter Verweis darauf als unzulässig zurückgewiesen, dass die erzwungene Arbeit an einem bestimmten Ort und das sogenannte Berlinverbot nicht vom strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz erfasst würden. Die geschilderten Lebens- und Arbeitsbedingungen hätten jedenfalls nicht das Ausmaß einer Freiheitsentziehung erreicht. Es habe kein Leben und Arbeiten unter haftähnlichen Bedingungen vorgelegen. Die hiergegen erhobene (Landes-) Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Der Verfassungsgerichthof des Landes Berlin erkannte einen Verstoß gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 15 Abs. 4 der Verfassung von Berlin. Der substantielle Anspruch des Betroffenen auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle wurde dadurch verletzt, dass die Rehabilitierungsgerichte die Prüfung des Sachverhaltes auf die Zuweisung des Arbeitsplatzes, eines Wohn- und Aufenthaltsortes und des Berlinverbotes reduziert haben, ohne die vom Betroffenen angeführte strenge Überwachung und sonstige Sonderbehandlung zu berücksichtigen.

Haftähnliche Lebens- und Arbeitsbedingungen im Sinne des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes dürfen nicht bloß im technischen Sinne einer Freiheitsentziehung verstanden werden. Der Begriff der Haftähnlichkeit von Lebens- oder Arbeitsbedingungen sei noch nicht gesetzlich und gerichtlich abschließend geklärt worden. Nach der Gesetzesbegründung werde vielmehr ein Spannungsfeld eröffnet, welches eine streng überwachte Einschränkung der Bewegungsfreiheit, strenge polizeiliche Aufsicht, Absonderung von Dritten und entwürdigende Behandlung einschließe. Es müssten daher alle Umstände des Einzelfalls herangezogen und geprüft werden. Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hob deswegen die ablehnende Rehabilitierungsentscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an das Kammergericht zurück.

Fundstellen: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 23.08.2023, Az. 49/22; Kammergericht, Beschluss vom 19.04.2022, Az. 7 Ws 5/20 REHA; Landgericht Berlin, Beschluss vom 08.01.2020, Az. 551 Rh 62/19

Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluss vom 05.12.2023, Az. 2 BvR 1749/20, festgestellt, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten und des Landgerichts Berlin, mit denen die Wohnungsdurchsuchung angeordnet wurden, um eine Straftat des sogenannten Adbusting aufzuklären, gegen das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) verstoßen haben. Bei einer sogenannte Adbusting-Aktion werden Werbeplakate im öffentlichen Raum in einer Weise verfremdet beziehungsweise umgestaltet, dass deren ursprünglicher Sinn abgeändert oder lächerlich gemacht wird. Für einen außenstehenden Betrachter sollen die Plakate erst auf den zweiten Blick als sinnverändert wahrgenommen werden.

In dem vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Fall war die betroffene Person im Mai 2019 auf frischer Tat ertappt worden, wie sie ein Werbeplakat der Bundeswehr an einer Bushaltestelle gegen ein verändertes Plakat austauschen wollte, das statt der Werbung Kritik an der Bundeswehr und einem Rüstungsunternehmen zum Ausdruck brachte.

Im Juni 2019 seien dann ähnlich veränderte Plakate aufgetaucht, weshalb die Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss beantragte, den das Amtsgericht Tiergarten im September 2019 erließ. Die Wohnung wurde daraufhin im September 2019 durchsucht. Das gegen die betroffene Person geführte Ermittlungsverfahren wurde im Dezember 2019 wegen Geringfügigkeit eingestellt. Die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss wies das Landgericht Berlin im August 2020 als unbegründet ab, da es die Wohnungsdurchsuchung für rechtmäßig hielt. Die Durchsuchung sei nicht unzulässiger Weise im Hinblick auf andere Fälle des sogenannten Adbustings erfolgt, sondern zur Untermauerung des Tatverdachts in dem konkret gegen die Betroffene geführten Strafverfahren.

Das Bundesverfassungsgericht führt in dem Beschluss vom 05.12.2023 aus, dass Adbusting je nach Begehungsweise  strafbar sein kann. Dies gilt etwa dann, wenn das jeweils abgehängte Plakat nicht (zusammengerollt) im Schaukasten verbleibt, sondern mitgenommen wird, dann könnte dies einen Diebstahl darstellen. Wird ein derart entwendetes Originalplakat selbst verfälscht, so kommt eine Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung in Betracht. Ein besonders schwerer Fall des Diebstahls ist wegen der Geringwertigkeit des Plakats in aller Regel auszuschließen, da der der Mietwert des Schaukastens gerade nicht maßgeblich ist.

Das Bundesverfassungsgericht stellt daher in dem Beschluss vom 05.12.2023 fest, dass der Durchsuchungsbeschluss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht genügt. Die Anordnung der Durchsuchung war unangemessen, da die Schwere des Eingriffs außer Verhältnis zu dem mit ihm verfolgten Zweck stand. Die angegriffenen Beschlüsse setzten sich nicht hinreichend damit auseinander, dass eine Strafe für den konkreten Strafvorwurf voraussichtlich niedrig ausgefallen wäre. Es war zudem äußerst unwahrscheinlich, dass die Durchsuchung tatsächlich zum Auffinden von Beweismitteln geführt hätte, die den Verdacht hinsichtlich der konkret vorgeworfene Tat hätten erhärten können. Die zu erwartenden Beweismittel hätten lediglich Hinweis darauf liefern können, dass die Beschwerdeführerin wohl für die Adbusting-Szene aktiv war.

Das Bundesverfassungsgericht führt zudem in dem Beschluss vom 05.12.2023 aus, dass auch die Meinungs- oder Kunstfreiheit der Strafbarkeit des „Adbustings“ entgegen stehen können. Das Adbusting kann eine Art der künstlerischen Betätigung darstellen, es sei aber stets eine Abwägung zwischen der Kunstfreiheit und den Eigentumsinteressen des Geschädigten vorzunehmen, um herauszufinden welchem Grundrecht im Einzelfall der Vorrang einzuräumen sei. In dem vorliegenden Fall nahm das Bundesverfassungsgericht nur den Verstoß gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung an, lehnte aber eine Verletzung der Grundrechte auf Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit ab.

Fundstellen: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung  Nr. 121/2023 vom 21.12.2023, Beschluss vom 05.12.2023, Az. 2 BvR 1749/20; Landgericht Berlin, Beschluss vom 24.08.2020, Az. 528 Qs 44/20; Amtsgericht Tiergarten, Beschluss vom 17.07.2019, Az. (348 Gs) 231 Js 1812/19 (1887/19) und Beschluss vom 06.09.2019, Az. 348 Gs 2464/19

Das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz vermutet (widerleglich), dass die Anordnung der Unterbringung in ein Spezialheim der DDR – also beispielsweise in ein Spezialkinderheim oder einem Jugendwerkhof – der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich jetzt mit der Frage zu beschäfitgen, wann diese Vermutung als widerlegt anzusehen ist und ob hierfür pauschale Erziehungsschwierigkeiten ausreichen können.

Den ursprünglichen Rehabilitierungsantrag hatte das Oberlandesgericht Dresden abgelehnt, weil in den vorliegenden Unterlagen eine Arbeitsbummelei sowie das Fernbleiben des Betroffenen vom Jugendwohnheim vermerkt worden seien. In einem späteren Strafurteil wurde von Schulbummelei und Straftaten gesprochen. Das Oberlandesgericht meinte aus dem Umtstand, dass der Betroffene zwischen der Unterbringung im Spezialkinderheim und im Jugendwerkhof zeitweise in einem Normalkinderheim beziehungsweise in einem Jugendwohnheim untergebracht worden war, den Schluss ziehen zu können, dass die damalige Jugendhilfe bestrebt war, erkennbaren Verbesserungen der Erziehungssituation Rechnung zu tragen. Die Rehabilitierung war demnach abgelehnt worden, weil die gesetzliche Vermutung der Rechtsstaatswidrigkeit als widerlegt angesehen wurde. Die Einweisungsentscheidungen seien angesichts der Hinweise auf Erziehungsschwierigkeiten und eine ungenügende Lernbereitschaft als aus rein fürsorgerischen Gründen erfolgt anzusehen gewesen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 31.07.2023 diese Argumentation als willkürlich abgelehnt. Eine Rehabilitierung scheide nicht bereits dann aus, wenn  Anhaltspunkte auf die typischen Regeleinweisungsgründe vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht führt in dem Beschluss aus, dass es mittlerweile anerkannt ist, dass in den Spezailheimen ein System herrschte, das sich aus strengster Disziplinierung, entwürdigenden Strafen, genauester Kontrolle des Tagesablaufs, Abschottung von der Außenwelt und ideologischer Indoktrination zusammensetzte, und in dem das Kind oder der Jugendliche zur bedingungslosen Unterwerfung unter die staatliche Autorität gezwungen werden sollte.

Nach den Forschungsergebnissen zur Heimerziehung in der DDR stellten demnach pauschal umschriebene Erziehungsschwierigkeiten, ungenügende Lernbereitschaft, Schul- oder Arbeitsbummelei typische Begründungen für die Heimerziehung in einem Spezialkindereheim dar. Vor diesem Hintergrund können nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sachfremde Zwecke der Unterbringung nicht bereits durch pauschale Verweise auf diese typischen Regeleinweisungsgründe ausgeschlossen werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat daher die ablehnende Rehabilitierungsentscheidung wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot (Art. 3 GG) aufgehoben, da die Ablehnung der gesetzllichen Regelvermutung im vorliegenden Fall in nicht mehr nachvollziehbarer und die Rehabilitierung damit in willkürlicher Weise abgelehnt worden sei.

Fundstelle: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 31.07.2023, Az. 2 BvR 1014/21

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 19.10.2023 in einem Revisionsverfahren, bei dem ich den Kläger vertreten habe, entschieden, dass auch Zwangsadoptionen in der DDR verwaltungsrechtlich rehabilitiert werden können. Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht wird die Adoption zwar nicht aufgehoben, es muss aber -bei Vorliegen der Voraussetzungen des verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes- die Rechtsstaatswidrigkeit der erfolgten Adoption festgestellt werden.

In dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall war die Adoption mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar, weil sie sich als Willkürakt im Einzelfall darstellte. Die Adoption war nicht  am Kindeswohl orientiert, sondern diente dazu, den Vater des Klägers zu disziplinieren und eine gemeinsame Ausreise nach Westdeutschland zu verhindern. Unmittelbare Folge der rechtsstaatswidrigen Adoption war eine noch fortdauernde Gesundheitsbeeinträchtigung des Betroffenen. Der Kläger war daher verwaltungsrechtlich zu rehabilitieren.

Fundstelle: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19.10.2023, Az. BVerwG 8 C 6.22; Pressemitteilung vom 19.10.2023, Nr. 74/2023

Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem Urteil vom 19.10.2022, Az. BVerwG 8 C 15.21, zum verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsverfahren klargestellt, dass Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit durch Sicherheitsbehörden der DDR grundsätzlich verwaltungsrechtlich zu rehabilitieren sein können. Diese Eingriffe können nicht ohne weiteres als systembedingte Nachteile dem allgemeinen Schicksal der Bevölkerung der DDR zugerechnet werden. Eingriffe in die Rechtsgüter Leben und Gesundheit und in die körperliche Bewegungsfreiheit überschreiten demnach immer die Schwelle der für die Annahme einer Verfolgung erforderlichen Eingriffsintensität. Nur bei einer Beeinträchtigung anderer Rechte muss eine wertende Beurteilung vorgenommen und geprüft werden, ob derartige Eingriffe und Benachteiligungen systembedingt mehr oder weniger allgemeines DDR-Schicksal waren. Die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung setzt aber auch insoweit kein über eine ungleiche Betroffenheit hinausgehendes drastisches Sonderopfer voraus.

In dem von mir für den Kläger geführten Revisionsverfahren ging es u. a. um die Überwachung des Klägers durch Gesellschaftliche und Informelle Mitarbeiter der Stasi während seines Grundwehrdienstes bei der NVA, mehrere Festnahmen des Klägers durch Sicherheitsbehörden der DDR, die zum Teil der Durchsetzung eines gegen den Kläger verhängten Verbots privater Fotoausstellungen dienten. Eine weitere Festnahme erfolgte im Zusammenhang mit einem Rockkonzert am Brandenburger Tor, als der Kläger Fotos von weiteren Verhaftungen machte.

Die Überwachung durch Mitarbeiter und Informelle Mitarbeiter der Stasi während des Grundwehrdienstes stellte nach dem Urteil eine hoheitliche Maßnahme im Einzelfall dar, die individuell und konkret auf die Person des Klägers ausgerichtet war. Diese Bespitzelung stellte kein Allgemeinschicksal aller DDR-Bürger dar. Sie verstieß in schwerwiegender Weise gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es wurde hierdurch in erheblicher Weise in die Persönlichkeitssphäre des Klägers eingegriffen und mit der operativen Kontrolle kein legitimes Ziel verfolgt. Dabei könne offen bleiben, ob die Maßnahme der politischen Verfolgung gedient habe, da sie jedenfalls willkürlich war. Die Überwachung durch die Staatssichert diente dazu, den Kläger unter Kontrolle zu halten und ihn zu selbstbelastenden Aussagen über mögliche Fluchtpläne zu verleiten.

Sämtliche Festnahmen stellten hoheitliche Maßnahmen im Einzelfall dar, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats unvereinbar waren, da sie als willkürlich anzusehen waren. Zudem war auch das ausgesprochene Verbot privater Fotoausstellungen nicht dem Bereich allgemeiner Beeinträchtigungen der DDR zuzuordnen. Eine solche Maßnahme geht über ein bloßes Ausstellungsverbot im Sinne einer zensierenden Kulturpolitik hinaus und erhält ihren rechtsstaatswidrigen Charakter durch die staatlicherseits hergestellte Verbindung zwischen bereits erlittener Haft, einem gegenüber dem Kläger ausgesprochenen Verbot privater Fotoausstellungen und der Androhung weiterer Haft im Falle der Zuwiderhandlung.

Fundstelle: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19.10.2022, Az. BVerwG 8 C 15.21

Der Koalitionsvertrag sieht für das Arbeitsrecht eine ganze Reihe von Neuerungen vor. Die Koalition aus SPD, FDP und Grünen hat sich auf die Anhebung des Mindestlohnes auf 12,00 € pro Stunde geeinigt. Flexible Arbeitszeitmodelle sollen ermöglicht werden. Experimentierräume sollen auch die begrenzte Möglichkeit zur Abweichung hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit vorsehen. Das Homeoffice soll als eine Möglichkeit der Mobilen Arbeit rechtlich von der Telearbeit und dem Geltungsbereich der Arbeitsstättenverordnung abgegrenzt werden. Coworking-Spaces werden begrüßt. Es soll einen  Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice geben. Der Arbeitgeber darf den Wunsch des Arbeitnehmers nach einer Arbeit im Homeoffice nicht aus sachfremden oder willkürlichen Gründen ablehnen.

Die Midi-Job-Grenze wird auf 1.600,00 € erhöht. Die Minijob-Grenze wird sich zukünftig an einer Wochenarbeitszeit von 10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen orientieren und damit auf 520,00 € monatlich erhöht werden. Die Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts soll bei den Mini-Jobs stärker kontrolliert werden.

Im öffentlichen Dienst soll (endlich) die Möglichkeit der Haushaltsbefristung abgeschafft werden. Sachgrundlose Befristungen will der Bund als Arbeitgeber Schritt für Schritt abbauen. Kettenbefristungen (mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge beim selben Arbeitgeber) sollen auf sechs Jahre befristet werden, wobei in Ausnahmefällen ein Überschreiten dieser Höchstdauer weiterhin möglich sein soll.

Für Saisonbeschäftigte soll für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag der Beschäftigung gesorgt werden.

Online-Betriebsratswahlen sollen erprobt werden. Betriebsräte sollen selbst entscheiden können, ob sie analog oder digital arbeiten wollen. Die Staatsanwaltschaft soll die Straftat der Behinderung der demokratischen Mitbestimmung aus dem Betriebsverfassungsgesetz in Zukunft von Amts wegen aufklären müssen (und nicht wie bisher nur auf Antrag tätig werden).

Die Weiter- und Fortbildung soll unterstützt werden. Es soll hier einer Erweiterung des Bafögs für die Weiterbildung geben. Ein Qualifizierungsgeld, das an das Kurzarbeitergeld angelehnt ist, soll eingeführt werden. Für Arbeitslose soll klargestellt werden, dass die Vermittlung in Arbeit keinen Vorrang vor einer beruflichen Aus- und Weiterbildung hat. Durch ein Weiterbildungsgeld von 150,00 € monatlich soll ein wirksamer Anreiz zur Weiterbildung für alle Arbeitslosen entstehen.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, „Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ vom 24.11.2021

Das Strafrecht soll nach dem Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen wieder zur Ultima Ratio (letztes Mittel) werden. Das ist erfreulich, dem Ansatz widerspricht allerdings, dass Teile des Tierschutzrechts in das Strafrecht überführt werden sollen und dass das maximale Strafmaß erhöht werden soll. Dafür soll das strafrechtliche Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB gestrichen werden, damit Ärztinnen und Ärzte öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.

Es soll die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften eingeführt werden, damit die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet werden kann. Es dürfte daher zu erwarten sein, dass auch die Strafbarkeit der Betäubungsmitteldelikte im Hinblick auf Cannabis entsprechend angepasst wird.

Der Straftatbestand der Behinderung der Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz (§ 119 Abs. 1 BetrVG) soll von einem Antragsdelikt zu einem Offizialdelikt hochgestuft werden.

Nach dem Koalitionsvertrag soll eine Regelung geschaffen werden, dass Vernehmungen und Hauptverhandlung in Bild und Ton aufgezeichnet werden müssen (audiovisuelle Beweisaufnahme). Gleichzeitig sollen die Gerichtsverfahren schneller und effizienter werden, ohne dass dabei aber die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung beeinträchtigt werden.

Die Regelungen zum Einsatz von V-Personen, zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung, zur Online-Durchsuchung und zur anlasslosen und verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung sollen überarbeitet werden. Die staatlich veranlasste Tatprovokation einer Straftat soll grundsätzlich verboten werden.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, „Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit vom 24.11.2021

Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluss vom 09.12.2021, Az. 2 BvR 1985/16, erneut die Pflicht zur Amtsermittlung des Sachverhaltes im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren betont und hob ablehnende Rehabilitierungsbeschlüsse des Landgerichts Schwerin und des Oberlandesgerichts Rostock daher auf. Die Sache wird nunmehr erneut vor dem Landgericht Schwerin verhandelt.

Der Betroffene war in ein Heim eingewiesen worden, nachdem er zusammen mit der Mutter beim Versuch einer sogenannten Republikflicht über die Tschechoslowakei im Alter von 13 Jahren inhaftiert worden war. Die Mutter wurde strafrechtlich verurteilt und konnte nach einer mehrmonatigen Haftstrafe nach Westdeutschland ausreisen. Ihren Sohn konnte sie erst 6 Monate später aus dem Heim abholen.

Der Rehabilitierungsantrag des betroffenen Heimkindes wurde von den Rehabilitierungsgerichten dennoch abgelehnt. Dies war nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig, die Gerichte hätten den Sachverhalt umfassend aufklären müssen. Im konkreten Fall hätten sie den Hinweisen auf die Aufnahmebereitschaft des älteren Halbbruders, der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Bundesrepublik lebte, sowie der Großeltern stiefväterlicherseits nachgehen müssen.

Zudem hätte aufgeklärt werden müssen, weshalb der Betroffene nach der Ausreise der Mutter noch weitere sechs Monate im Heim verbringen musste. Das Rehabilitierungsgericht durfte hier nicht einfach von organisatorisch-bürokratischen Hemmnissen ausgehen, ohne dies weiter aufgeklärt zu haben. Zumal sich für das Vorliegen der angeblich organisatorisch-bürokratischer Hemmnisse in den Akten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine dokumentierten Verfahrensschritte von einer bestimmten Dauer finden.

Vom Oberlandesgericht angenommene Unterhaltsrückstände und diesbezügliche Unstimmigkeiten dürften jedenfalls unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kein anerkennenswertes Hemmnis für die verzögerte Heimentlassung darstellen. Das Bundesverfassungsgericht nahm insoweit auch einen Verstoß gegen das Willkürverbot durch die Begründung de abgelehnte Rehabilitierung an.

Fundstellen: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 09.12.2021, Az. 2 BvR 1985/16, Pressemitteilung Nr. 110/2021 „Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde betreffend die Rehabilitierung des Beschwerdeführers wegen einer Heimunterbringung in der ehemaligen DDR“ vom 29.12.2021

Was hat sich die neue Koalition aus Sozialdemokraten,  Grünen und Freien Demokraten zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts vorgenommen?

Laut dem geschlossenen Koalitionsvertrag soll die Beantragung und Bewilligung von Hilfen und Leistungen für Opfer der SED-Diktatur -insbesondere für gesundheitliche Folgeschäden- erleichtert werden. Die Opferrente soll dynamisiert werden. Die Definition der Opfergruppen soll an die Forschung angepasst werden.

Die Erinnerungskultur und das begangene SED-Unrecht sollen bei der Ausweisung des Naturschutzprojekts „Das europäische Grüne Band“ auf dem ehemaligen Grenzstreifen berücksichtigt werden. Die Einrichtung des Archivzentrums SED-Diktatur soll unterstützt werden, die Standorte der Außenstellen des Stasi-Unterlagen-Archivs sollen qualitativ weiterentwickelt werden.

Zudem soll ein bundesweiter Härtefallfond für die Opfer eingerichtet werden und hierfür die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge weiterentwickelt werden. Sehr konkret sind diese Punkte im Koalitionsvertrag nicht ausgestaltet, man darf gespannt bleiben. Die Erleichterung der Anerkennung von gesundheitlichen Folgeschäden erscheint mir jedenfalls dringend notwendig zu sein.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, „Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ vom 24.11.2021

Die gesetzliche Vermutung der politischen Verfolgung und des sachfremden Einweisungsgrundes für Spezialheime und Jugendwerkhöfe beschäftigt weiterhin die Gerichte. In einem vom Brandenburgischen Oberlandesgericht entschiedenen Fall ging es um die Rehabilitierung eines Heimkindes, welches in einem Spezialkinderheim untergebracht worden war.

Das Landgericht Potsdam konnte die Gründe der Einweisung nicht mehr vollständig aufzuklären, da die Unterlagen aus dem Anordnungsverfahren nicht mehr auffindbar waren. Aus zwei Schulzeugnissen aus der Zeit vor der Einweisung ging zwar hervor, dass die Betroffene Schwierigkeiten habe die schulischen und außerschulischen Aufgaben zu erfüllen und dass sie im Unterricht störe. Sie habe erhebliche Fehlzeiten in der Schule, sie habe im Schuljahr an 80 Tagen gefehlt, wovon 74 Tage unentschuldigt waren. Die schulischen Leistungen wurden dagegen mit Noten zwischen „genügend“ und „sehr gut“ bewertet.

Das Landgericht konnte keine spezifischen Umstände erkennen, die gerade die Unterbringung im Spezialheim gerechtfertigt hätte. Es kämen auch Gründe für die Heimeinweisung in Betracht, die nicht allein in der Person der betroffenen Antragstellerin gelegen haben. Das Landgericht rehabilitierte die Betroffene daher für die Zeit der Unterbringung im Spezialkinderheim.

Die Staatsanwaltschaft Potsdam hatte gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt, um zu klären, ob eine massive Verletzung der Schulpflicht als Tatsache anzuerkennen ist, die die gesetzliche Vermutung der politischen Verfolgung oder die Vermutung eines sachfremden Einweisungsmotivs aus § 10 Abs. 3 StrRehaG widerlegt.

Das Brandenburgische Oberlandesgericht verneinte diese Frage in dem Beschluss vom 07.01.2021, da im vorliegenden Fall nicht positiv festgestellt werden konnte, dass die Heimeinweisung fürsorglich bedingt war. Hierfür hätte das Landgericht nämlich auch feststellen müssen, dass die Unterbringung im Normalkinderheim nicht ausreichend gewesen wäre.

Fundstellen: Landgericht Potsdam, Beschluss vom 22.06.2020, Az. 2 Reha 15/18; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 07.01.2021, Az. 2 Reha 15/20

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat sich in dem Beschluss vom 16.06.2021, Az. 108/20, mit einem Rehabilitierungsverfahren befasst, in dem es um einen Betroffenen ging, der u. a. im Spezialkinderheim „Rankenheim“ in Groß-Köris, im Sonderkinderheim in Burgstädt, im Durchgangsheim in Alt-Stralau, im Jugendwerkhof in Hennickendorf untergebracht worden war und hierfür seine Rehabilitierung beantragt hatte. Für die Zeit im Jugendwerkhof Torgau war der Antragsteller bereits in einem gesonderten Verfahren rehabilitiert worden.

Der Antragsteller hatte seinen Antrag auf Rehabilitierung damit begründet, dass die Einweisungen politisch motiviert waren, er mehrfach versucht habe, im Alter von neun Jahren die innerdeutsche Grenze zu passieren und zu seinem in die Bundesrepublik Deutschland ausgereisten Vater zu ziehen. Er verwies zudem auf die menschenunwürdige Behandlung während seiner Heimunterbringungen, wobei er schwerste körperliche und seelische Misshandlungen erlebt habe.

Das Kammergericht lehnte diesen Antrag ab, da angeblich Fürsorgegründen für die Einweisungen vorgelegen hätten. Die Mutter des Antragstellers habe Alkoholprobleme gehabt, an deren Folgen sie 1974 auch verstorbenen sei. Zudem habe es unentschuldigtes Fehlen des Antragstellers in der Schule gegeben. Die gesetzliche Vermutung rechtsstaatswidriger Einweisungsgründe sei daher widerlegt.

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hob nun die ablehnende Entscheidung des Kammergerichts wegen Verstoßes das Willkürverbot, den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes und wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf.

Der Verfassungsgerichtshof führt in der Entscheidung aus, dass das Gebot effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen muss. Der Antragsteller hatte einen Verstoß gegen sein Recht auf Ausreise dargelegt, welches zu den grundlegenden Menschenrechten gehört. Das Gericht hätten daher die näheren Umstände der Ausreise des Vaters, der Heimeinweisungen und der Fluchtversuche untersuchen müssen. Das Gericht hätte insoweit alle Erkenntnisquellen wie z. B. die Vernehmung des Betroffenen und der von ihm genannten Zeugen zu nutzen gehabt.

In dem vom Verfassungsgerichtshof zu entscheidenden Fall kam zudem eine Rehabilitierung wegen groben Missverhältnisses zwischen dem Anlass der Heimeinweisung und der angeordneten Unterbringung in Betracht. Dafür hätte das Kammergericht die damals herrschenden Lebensbedingungen in den Heimen im Rahmen Amtsermittlungspflicht aufklären müssen. Dem stand auch nicht entgegen, dass die Mutter ab dem Jahre 1963 nicht mehr bereit war, den Antragsteller wieder bei sich aufzunehmen. Es in dem Fall nämlich Hinweise darauf gab, dass die fehlende Aufnahmebereitschaft des Kindes durch die Mutter zumindest auch durch die Angst vor Repressalien verursacht worden war oder sich sonst als kausale Folge der zwangsweisen Einweisung mit daran anknüpfender Entfremdung und der Angst darstellte.

Die Annahme des Kammergerichts, dass die gesetzliche Vermutung einer politischen oder sachfremden Einweisungsmotivation im behandelten Fall widerlegt worden sei, verstoße zudem gegen das Willkürverbot. Die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen gehe nur dann zu Lasten des Antragstellers, wenn die gesetzliche Vermutung nicht eingreife. Wenn die Ermittlungen des Gerichts auf fürsorgliche Gesichtspunkte und auf sachfremde bzw. politische Gründe der Einweisung hindeuten, muss feststehen, dass der eine oder der andere Grund ausschlaggebend war. Steht dies nach Ausschöpfung aller möglichen Erkenntnisquellen nicht fest, greift die gesetzliche Vermutung zu Gunsten des ehemaligen Heimkindes. Gegen die Widerlegung der Regelvermutung spreche zudem, wenn der Betroffene „nahezu ausnahmslos in der Umerziehung dienenden, teil geschlossenen Heimen untergebracht war und nicht in regulären, offenen Kinderheimen.“

Der verfassungsrechtliche Verstoß gegen das rechtliche Gehör liege darin, dass das Gericht die Argumentation zu den Ausreisebestrebungen von Vater und Sohn und der alternativen Unterbringung bei seinem Vater in der Bundesrepublik Deutschland als unbeachtlich angesehen habe. Es hätte diesen Vortrag in Betracht ziehen und ihm gegebenenfalls weiter nachgehen müssen. Das Kammergericht muss nun erneut über den Fall entscheiden.

Fundstelle: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 16.06.2021, Az. 108/20

Nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte, stattfand. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Allerdings divergiert die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu den Anforderungen an die Widerlegung dieser gesetzlichen Regelvermutung ganz erheblich.

Das Thüringer Oberlandesgericht in Jena hat nun in dem Beschluss vom 16.11.2020, Az. 1 Ws-Reha 6/17, festgestellt, dass diese Vermutung nicht schon durch die Benennung gängiger, nach der Verordnungslage und der wissenschaftlich belegten Rechtspraxis erwartbarer Anordnungsgründe in der Einweisungsentscheidung widerlegt wird.

Die Widerlegung setzt vielmehr die Feststellung atypischer, über eine Schwererziehbarkeit im vorbeschriebenen Sinne hinausgehender Umstände voraus, die die Maßnahme im konkreten Einzelfall ausnahmsweise nicht als rehabilitierungswürdiges (System-)Unrecht erscheinen lassen.

Das Thüringische Oberlandesgericht begründet das in dem Beschluss unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung wie folgt:

„Nur so lässt sich der mit der Gesetzesfassung begründeten Gefahr begegnen, dass Betroffene, deren Jugendhilfeakten noch vorhanden sind, auf Grundlage einer möglicherweise die tatsächlichen Anordnungsgründe verschleiernden Aktenlage schlechter gestellt werden als die, deren Akten nicht mehr aufgefunden werden können (ohne diese vom Gesetzgeber offenbar in Kauf genommene Konsequenz allerdings gänzlich ausschließen zu können).“

Das Thüringische Oberlandesgericht zieht den Schluss, dass die gesetzliche Vermutung nicht schon dann entkräftet ist, wenn sie durch den Beweis ihrer möglichen Unrichtigkeit nur erschüttert ist. Sie muss vielmehr durch den vollen Beweis ihres Gegenteils widerlegt sein, das Gericht muss also die Überzeugung vom Gegenteil der Vermutung gewinnen.

Fundstelle: Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16.11.2020, Az. 1 Ws-Reha 6/17

Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hatte über die Regelung zur Befreiung von der Maskenpflicht bei Vorlage eines ärztlichen Attests zu entscheiden.

Nach der Verordnung des Landes Brandenburg (Dritte Verordnung über befristete Eindämmungsmaßnahmen aufgrund des SARS-CoV-2-Virus und COVID-19 im Land Brandenburg vom 15.12.2020) mussten Personen, denen die Verwendung einer Mund-Nasen-Bedeckung wegen einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar ist, dies grundsätzlich vor Ort durch ein schriftliches ärztliches Zeugnis im Original nachzuweisen. Weiter musste das Attest mindestens den vollständigen Namen und das Geburtsdatum, die konkret zu benennende gesundheitliche Beeinträchtigung (Diagnose) sowie konkrete Angaben beinhalten, warum sich hieraus eine Befreiung von der Tragepflicht ergibt.

Diese Regelung hielt das Oberverwaltungsgericht in seiner Entscheidung über den Eilantrag für nicht rechtmäßig. Zwar könne der Verordnungsgeber die Vorlage des Attests im Original verlangen, nicht jedoch die Angabe der Diagnose vorschreiben. Das Oberverwaltungsgericht kam im Rahmen der in Eilrechtsverfahren üblichen Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass  schon fraglich sei, ob der datenschutzrechtliche Eingriff im Infektionsschutzgesetz eine hinreichende Rechtsgrundlage finde. Jedenfalls drohe dem Antragsteller, dass er seine konkrete Diagnose und sich daraus ergebene Folgen an einer Vielzahl von nicht-öffentlichen Stellen (Geschäfte, öffentliche Verkehrsmittel, Arbeits- und Betriebsstätten, Büro- und Verwaltungsgebäude, Versammlungen unter freiem Himmel, religiöse Veranstaltungen) vor Ort offenbaren müsse. Diese Stellen waren ihrerseits nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet, Bußgelder drohten diesen nicht.

Die Regelung, dass das Attest auch eine Diagnose enthalten müsse, wurde daher vom Oberverwaltungsgericht vorläufig außer Kraft gesetzt. Mittlerweile (Stand 31.01.2021) hat das Land Brandenburg die Regelung geändert, danach muss das Attest nur dann zusätzlich konkrete Angaben beinhalten, warum die betroffene Person von der Tragepflicht befreit ist, wenn es bei Behörden oder Gerichten vorgelegt wird. Eine Kopie des Attests darf nicht gefertigt werden (vgl. Fünfte SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung des Landes Brandenburg vom 22.01.2021).

Fundstellen: Oberverwaltungs­gericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 04.01.2021, Az. OVG 11 S 132/20, Beschluss vom 06.01.2021, Az. OVG 11 S 138/20; Pressemitteilung vom 07.01.2021

Eine historische Frage hatte das Verwaltungsgericht Potsdam zu klären. In dem Gerichtsstreit ging es um die Frage, ob die Bekennende Kirche bzw. deren Mitglieder im Dritten Reich als Kollektiv der Verfolgung (im Sinne des Vermögensgesetzes) ausgesetzt waren.

Die Klägerseite forderte Rückübertragung eines Grundbesitzes nach dem Vermögengesetz in Verbindung mit der Rückerstattungsanordnung (REAO). Aus Sicht der Klägerseite handelte es sich um einen Zwangsverkauf zu Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft. Dieser sei u. a. deshalb erfolgt, weil der damalige Eigentümer Mitglied der Bekennenden Kirche war und diese im Dritten Reich aus religiösen Gründen einer Kollektivverfolgung unterlagen. Die Klägerseite machte einen Anspruch auf Rückübertragung geltend, weil die Nationalsozialisten zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags zwischen dem Alteigentümer und der Stadt Berlin über das Grundstück im Jahre 1937 die Zerschlagung der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit beabsichtigten. Die Kläger hatten vorgebracht, dass es sich bei der Bekennenden Kirche um eine im Verhältnis zur Gesamtzahl der Protestanten im Deutschen Reich kleine Gruppierung gehandelt habe, deren Mitglieder sich dazu verpflichtet hatten, durch ihr Bekenntnis zum unverfälschten Evangelium das Bestreben des NS-Regimes zu bekämpfen, den Nationalsozialismus als neue Religion mit Adolf Hitler als neuen Erlöser einzusetzen. Die Klägerseite war der Meinung, dass die Bekennende Kirche damit in ihrer Gesamtheit aus Sicht der Nationalsozialisten zu den wichtigsten Weltanschauungsgegnern zählte. Der nationalsozialistische Staat habe gegenüber der Bekennenden Kirche nicht nur zum Mittel der Finanzaufsicht gegriffen, sondern die Ausbildung und Ordination von Pfarrern sowie die Publikation oder Kanzelabkündigung von kirchenpolitischen Äußerungen und von Beschlüssen der Bekenntnissynoden verboten. Der Bekennenden Kirche sei es daher nur noch durch illegale Verbreitung von Flugblättern und Schriften möglich gewesen, gegen die antichristlichen Bestrebungen des nationalsozialistischen Regimes anzugehen; die Verfasser, Austräger und Verleger dieser Schriften seien verfolgt worden.

Das Verwaltungsgericht Potsdam hatte die Klage bereits mit Urteil vom 07.11.2013, Az. 1 K 2032/08, abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte das Urteil allerdings mit Beschluss vom 18.12.2014, Az. 8 B 55/14 wieder aufgehoben, die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen und angeregt, ein Sachverständigengutachten zur Frage der Kollektivverfolgung der Bekennenden Kirche durch den nationalsozialistischen Staat einzuholen. Dem ist das Verwaltungsgericht nun nachgekommen, es hat die Klage allerdings erneut abgewiesen. Denn das eingeholte Gutachten komme zu dem Ergebnis, dass in der historischen Forschung weithin Einigkeit bestehe, dass die Bekennende Kirche keine Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime war, auch nicht in ihrem Selbstverständnis.

Das Verwaltungsgericht Potsdam führt in dem Urteil aus, dass die Bekennede Kirche eine theologisch motivierte Gegenbewegung zu den Deutschen Christen gewesen sei und in Teilen zur staatlichen Kirchenpolitik, ohne aber die NS-Ordnung grundlegend in Frage zu stellen. Nur Einzelpersonen hätten diese Politik des Schweigens durchbrochen. Zwar habe die Bekenntniskirche dem Regime als innenpolitischer Störfaktor gegolten. Wegen ihrer Größe, bedeutender Verflechtungen zu den gesellschaftlichen Funktionseliten und internationaler Solidarbeziehungen habe sie jedoch geduldet werden müssen. Aus der Wahrnehmung weltanschaulicher NS-Rigoristen als ein geistiges Hindernis auf dem langfristigen Weg der Durchsetzung totalitärer nationalsozialistischer Herrschaft sei keine Verfolgung sämtlicher Mitglieder gefolgt. Mitgliederverfolgung habe exponierte Theologen und Führungspersönlichkeiten im Zusammenhang mit konkreten Vorwürfen betroffen. Selbst unter diesen hätten einige die Zeit bis 1945 nahezu unbehelligt überstanden. Der Besitz einer Mitgliedskarte, der sogenannten Roten Karte, habe jedenfalls keine Verfolgungsmaßnahmen nach sich gezogen.

Nach dem vom Gericht eingeholten Gutachten zur Verfolgungssituation der Bekennenden Kirche einschließlich ihrer Mitglieder sah das NS-Regime die einzelnen Mitglieder der Bekennenden Kirche nur dann als Hindernis an, wenn sie mit konkreten, als widerständig wahrgenommenen Handlungen auftraten, infolge derer sie dann individuell Verfolgungsmaßnahmen unterlagen. Eine konkrete Absicht des Ausschluss aller Mitglieder der Bekenntniskirche aus dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des Reichs habe nicht vorgelegen. Selbst eine konsequente auf die Bekenntniskirche als Institution bezogene Verfolgung bzw. eine Absicht hierzu habe nicht vorgelegen. Das Gutachten komme zu dem Ergebnis, es sei im Dritten Reich hinsichtlich der Bekenntniskirche als organisierter Gemeinschaft aus innen- wie außenpolitischen Rücksichten und mit Blick auf die Erhaltung der vom Regime proklamierten Volksgemeinschaft zu keinem Zeitpunkt zur Absicht und Umsetzung einer konsequenten Verfolgung der Gemeinschaft (Verbot, vollständiger Entzug der finanziellen Mittel o. ä.) gekommen; erst recht gelte dies für sämtliche einfachen Mitglieder der Bekennenden Kirche.

Der Gutachter führe aus, dass die Bekennende Kirche selber sich nicht als politische Widerstandsbewegung verstanden habe und einen betont theologischen, am Bekenntnis und am Wort der Bibel orientierten Zugang zum Glauben propagiert habe. Aus Sicht des NS-Regimes hätten vor allem die zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche gespaltenen Landeskirchen (mit zumeist deutschchristlichen Kirchenleitungen und oppositioneller Bekenntniskirche), ein fortwährendes politisches Ärgernis dargestellt. Das NS-Regime habe in dem permanenten Streit eine ernsthafte Gefährdung der proklamierten Volksgemeinschaft gesehen. Es habe in der gesamten Zeit seines Bestehens hinsichtlich des „Ärgernisses“ der Bekennenden Kirche keine eindeutige und lineare Kirchenpolitik gefunden, kirchenpolitische Fragen seien vielmehr in tagespolitischer Taktik sowie mehrstimmig und uneindeutig behandelt worden. Bis zum Schluss habe keine Klarheit darüber bestanden, wie die religiöse Frage zu lösen sei. Radikale antichristliche und antikirchliche Ansätze hätten sich wohl auch vor dem Hintergrund, dass mindestens zwei Drittel aller Parteimitglieder zugleich Mitglieder einer der beiden großen christlichen Konfessionen waren, nicht durchgesetzt.

Zwar sei seit 1937, nach der Olympiade, der kirchenpolitische Kurs wieder spürbar verschärft worden, hinsichtlich der Bekennenden Kirche etwa durch das Verbot und die schärfere Ahndung von Kollektensammlungen der Bekenntniskirche, durch Einsetzung der Finanzabteilungen, durch ein Verbot der bekenntniskirchlichen Hochschulen, durch die Verhaftung Niemöllers in Berlin-Dahlem am 1. Juli 1937 und durch eine scharfes Vorgehen gegen die Initiatoren einer Gebetsliturgie anlässlich der sogenannten Sudetenkrise im September 1937. Jedoch sei die Bekennende Kirche auch dann eine zwar nicht erwünschte, aber nicht verbotene, also legale und letztlich geduldete kirchliche Gruppierung geblieben. Grundsätzlich habe zwar der Einfluss beider Konfessionen im Reich zurückgedrängt werden sollen; dies sei jedoch eine sehr langfristige religionspolitische Strategie gewesen, die nicht zeitnah umzusetzen war und die jedenfalls nach Kriegsausbruch auf eine spätere Zukunft, nämlich auf die Zeit nach einer siegreichen Beendigung des Krieges geschoben wurde.

Im Ergebnis habe Es im ‚Dritten Reich‘ keine allgemeine kollektive Verfolgung wegen bloßer Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche gegeben, wann immer Mitglieder der Bekennenden Kirche belangt worden seien, dann sei dies ausnahmslos deshalb geschehen, weil ihnen konkrete Taten wie z. B. politische Predigtworte, verbotene Versammlungen, regimekritische Publikationen oder unerwünschte Auslandsverbindungen zur Last gelegt worden seien. In der großen Mehrzahl habe es sich bei den Betroffenen um exponierte Bekenntnistheologen gehandelt, zumeist Pfarrer. Der Gutachter führt darüber hinaus aus, dass auch die Organisationsformen und Einrichtungen der Bekennenden Kirche nicht einer allgemeinen Verfolgung unterlegen hätten. Gottesdienste und Bibelstunden der Bekennenden Kirche hätten ebenso bis in die Kriegszeit fortgeführt werden können wie Bekenntnissynoden, wenn auch letztere unter restriktiven Bedingungen. Die größte überregionale Zeitschrift der gesamtdeutschen Bekennenden Kirche, die in Göttingen erscheinende Junge Kirche, sei immerhin bis zu ihrem Verbot im Jahr 1941 erschienen. Zu dieser Zeit hätte allerdings auch zahlreiche andere kirchliche Periodika ihr Erscheinen kriegsbedingt einstellen müssen. Die engen Verflechtungen von Bekennender Kirche mit der Deutsche Evangelischen Kirche, deren Teil sie war, hätten einer generellen Verfolgung entgegengestanden. Dies ändere nichts daran, dass die Bekennende Kirche durch innerkirchliche wie staatliche repressive Maßnahmen reguliert und sukzessive eingeschnürt worden sei. Diese Maßnahmen hätten sich aber auf das Spitzenpersonal der Bekennenden Kirche konzentriert, vor allem auf exponierte Bekenntnispfarrer wie Martin Niemöller und Martin Albertz sowie einige Universitätstheologen wie Karl Barth, die sich mit kritischen Predigten, Denkschriften und anderen Erklärungen nach außen wandten. Aber selbst insoweit sei das Vorgehen nicht konsequent gewesen, wie sich am Beispiel der Unterzeichner der Denkschrift an Hitler von Mai/Juni 1936 sehen lasse, die nicht belangt worden seien. Es ergebe sich also das Bild, dass nicht einmal alle Leitungsmitglieder der Bekennenden Kirche, geschweige denn sämtliche einfachen Mitglieder wegen ihrer Zugehörigkeit verfolgt worden seien. Allein der Umstand, Inhaber der sogenannten Roten Karte zu sein, habe keine Verfolgungskonsequenzen mit sich gebracht. Auch im Staatsdienst stehende Mitglieder, Beamte, Mediziner und Juristen hätten allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft keine Konsequenzen zu erleiden gehabt und hätten im Amt bleiben können. Eine – wohl eher vereinzelt vorkommende – gleichzeitige Mitgliedschaft von Laien in der NSDAP und in der Bekennenden Kirche habe im Konfliktfall, also bei einem besonderen Hervortreten als Mitglied der Bekennenden Kirche, eher nicht zu einer Schonung, sondern mitunter zu einem Parteiausschlussverfahren geführt.

Das Verwaltungsgeircht kommt auf der Grundlage der gutachterlichen Ausführungen in einer Gesamtschau zwar zu dem Befund, dass die Bekennende Kirche von Teilen der NSDAP durchaus als Hindernis für die Durchsetzung langfristig angelegter weltanschaulicher Ziele, nicht aber allgemein für die Durchsetzung des aktuell wirkenden nationalsozialistischen Totalitätsanspruchs wahrgenommen wurde. Jedenfalls wurde wegen innen- wie außenpolitischer Rücksichten und auch aufgrund einer uneinheitlichen Kirchenpolitik zu keinem Zeitpunkt die Absicht einer konsequenten repressiven Verfolgung der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit und im Speziellen aller ihrer einzelnen Mitglieder gefasst. Die Umsetzung einzelner repressiver Maßnahmen, die die Finanzierung und die Pfarrerausbildung sowie die Verfolgung einzelner hervorgetretener Pfarrer und Hochschullehrer betrafen, begründen nicht einmal ohne Weiteres die Annahme einer konsequenten Verfolgung der Bekennenden Kirche als organisierter Gemeinschaft. Hinsichtlich eines Willens, die einfachen Mitglieder vom kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands auszuschließen, kommt diesem staatlichen Vorgehen keine Aussagekraft zu. Das Regime habe zwar in der Bekennenden Kirche frühzeitig einen Feind erkannt und dass die Praxis der Vorladungen und Verhöre bei der Gestapo habe sich nicht nur gegen Pfarrer sondern auch gegen eine Vielzahl von aktiven Mitgliedern von Gemeinden gerichtet und die Haft und Verfolgung u. a. nach dem Heimtückegesetz habe der Abschreckung der Gemeindemitglieder gedient. Eine Kollektivverfolgung der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit, einschließlich aller ihrer Mitglieder, oder des Personenkreises der Mitglieder der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit im Sinne einer kulturellen und wirtschaftlichen Ausschließungsabsicht scheide aber aus.

Fundstellen: Verwaltungsgericht Potsdam, Urteil vom 23.10.2019, Az. 2 K 132/15; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 18.12.2014, Az. 8 B 55/14

Das Berliner Institut für Sozialforschung hat die heutige Lebenslage der Opfer von DDR-Unrecht und deren Familienangehöriger in Brandenburg wissenschaftlich erforscht. Die Sozialstudie kommt zu dem Ergebnis, dass die extremen Belastungen und die Ausnahmeerfahrungen den weiteren Lebensverlauf der meisten Betroffenen negativ beeinflusst haben. Das verfügbare Einkommen der Betroffenen stelle sich oft als sehr prekär dar und liege deutlich unter dem Durchschnitt der Bevölkerung im Land Brandenburg. 49 % der Betroffenen verfügen über ein persönliches monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000 €.

Die Betroffenen klagen noch heute in 70 % der Fälle über psychische Folgen und in 38 % der Fälle über körperlichen Folgen des erlittenen Unrechts. Häufig treten bei ihnen beispielsweise Schlafstörungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen auf.

Die negativen materiellen  Folgen  und die Auswirkungen des Unrechts auf die berufliche Laufbahn wirken bis heute stark nach. Betroffene die für das erlittene Unrecht juristisch rehabilitiert wurden,  schätzen nach den Ergebnissen der Studie  ihren  Gesundheitszustand  als  besser  ein  und sind zufriedener mit der Demokratie in Deutschland. Betroffene von DDR-Unrecht stehen dabei der  demokratischen  Gesellschaft heute ohnehin insgesamt positiver gegenüber als der brandenburgische Bevölkerungsdurchschnitt.

Fundstellen: Die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen DiktaturBerliner Institut für Sozialforschung GmbH, „Studie zu aktuellen Lebenslagen von Menschen aus dem Land Brandenburg, die in der SBZ / DDR politisch verfolgt wurden oder Unrecht erlitten und deren mitbetroffenen Familien“

Das Kammergericht hatte über einen vom Amtsgericht erlassenen Haftbefehl in einem Strafbefehlsverfahren zu entscheiden. Das Amtsgericht hatte zunächst einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe erlassen, gegen den die Beschuldigte Einspruch eingelegt hatte. Ein Strafbefehl ähnelt einer Anklageschrift, enthält aber eine konkrete Strafe und wird von einem Gericht erlassen. Legt der Beschuldigte gegen einen Strafbefehl keinen Einspruch ein, dann steht der Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleich. Auf diese Weise kann daher ein Strafurteil ohne mündliche Verhandlung ergehen, die Strafhöhe kann dabei bis zu einem Jahr Bewährungsstrafe betragen.

Nach den Vorschriften der Strafprozessordnung kann sich der Beschuldigte -nach eingelegtem Einspruch gegen einen Strafbefehl- in der mündlichen Verhandlung grundsätzlich durch einen Verteidiger vertreten lassen. In dem vom Kammergericht zu entscheidenden Fall hatte das Amtsgericht allerdings das persönliche Erscheinen der beschuldigten Person angeordnet. Diese war zum Hauptverhandlungstermin nicht erschienen, weshalb das Amtsgericht einen Haftbefehl erlassen hat.

Die von mir hiergegen eingelegte Beschwerde wurde vom Landgericht Berlin verworfen, die weitere Beschwerde zum Kammergericht hatte dagegen Erfolg. Das Kammergericht hob den Haftbefehl durch Beschluss vom 11.12.2019 mit der zutreffenden Begründung auf, dass der Erlass des Haftbefehles nicht verhältnismäßig war. Hier hätte das Amtsgericht u. a. die Möglichkeit prüfen müssen, ob es auch ohne Anwesenheit der betroffenen Person hätte verhandeln können. Selbst wenn das persönliche Erscheinen angeordnet wird, kommt der Erlass eines Haftbefehls nur in Betracht, wenn das Gericht nach sorgfältiger Prüfung diese Möglichkeit ausgeschlossen hat. Zwar kann das Amtsgericht auch wegen des Nichterscheinens bei persönlicher Ladung des Beschuldigten einen Haftbefehl erlassen, das muss aber in der Ladung jeweils ausdrücklich angedroht werden, was hier nicht der Fall war.

Das Kammgericht weist ergänzend darauf hin, dass dem Strafbefehlsverfahren die Verhaftung des Angeklagten strukturell fremd ist. Der Erlass eines Haftbefehls darf zudem nicht dem Selbstzweck dienen, den Ungehorsam des Angeklagten zu ahnden. Es müsste also vor Erlass eines Haftbefehls vom Gericht sorgfältig geprüft und dargelegt werden, dass die Aufklärungspflicht oder andere zwingende Gründe die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung unbedingt erforderlich machen.

Fundstelle: Kammergericht, Beschluss vom 11.12.2019, Az. 2 Ws 200/19 – 121 AR 293/19

Die Bußgeldnorm der Berliner Corona-Eindämmungsverordnung für Verstöße gegen das Mindestabstandsgebot und das Gebot, physisch soziale Kontakte auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren, wurde vom Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin mit Beschluss vom 20.05.2020, Az. VerfGH 81 A/20, einstweilen außer Kraft gesetzt.

Im Rahmen einer Folgenabwägung führt der Verfassungsgerichtshof in dem Beschluss aus, dass sich die Bußgeldvorschrift (§ 24 SARS-CoV-2-EindmaßnV) auf (zu) unbestimmte Rechtsbegriffe in der Eindämmungsverordnung bezieht (nämlich auf § 1 Satz 1 und 2 SARS-CoV-2-EindmaßnV). Der Bürger könne nicht in ausreichender Weise erkennen, welche Handlungen oder Unterlassungen bußgeldbewehrt sind.

Diese mangelnde Erkenntnismöglichkeit kann gerade rechtstreue Bürgerinnen und Bürger veranlassen, sich in ihren Grundrechten noch weiter zu beschränken, als es erforderlich wäre, um keine Ordnungswidrigkeit zu begehen.

Eine Bußgeldandrohung von bis zu 25.000 Euro entfaltet zusätzliche abschreckende Wirkung. Der vom Berliner Senat erlassene Bußgeldkatalog wurde zudem nicht angepasst, der Großteil der Tatbestände des Bußgeldkatalogs lässt sich nicht mehr in Einklang mit den mittlerweile gelockerten Corona-Verordnungen bringen.

Damit hat der Verfassungsgerichtshof zwar noch nicht darüber entschieden, ob die Bußgeldvorschrift auch verfassungswidrig ist. Es dürfte aber zu erwarten sein, dass auch im Hauptsachverfahren die Bußgeldvorschrift in der jetzigen Form (Stand 27.05.2020) keinen Bestand haben wird.

Fundstelle: Verfassungsgerichtshof von Berlin, Beschluss vom 20.05.2020, Az. VerfGH 81 A/20; Pressemitteilung vom 26.05.2020

Die Frage ab welchem Alter die Krankenkasse Hilfsmittel -wie einen Therapiestuhl- als Zweitversorgung für eine Kita für ein behindertes Kind genehmigen muss, war für Kinder jüngere betroffene Kinder bislang umstritten. Das Sozialgericht Berlin hat in dem von mir geführten Klageverfahren mit Beschluss vom 28.05.2019, Az. S 208 KR 1866/18, entschieden, dass auch für behinderte Kinder unter drei Jahren ein Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiestuhl besteht.

Die Krankenkasse hatte die Versorgung mit dem Therapiestuhl aus dem Grund abgelehnt, dass eine Zweitversorgung für den Kindergarten nur dann genehmigt werden könne, wenn der Besuch der Einrichtung dem Hinführen zur Schulfähigkeit diene. Das sei bei Kindern unter drei Jahren grundsätzlich nicht der Fall, wie sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 03.11.2011, Az. B 3 KR 8/11 R, ergeben soll. Die Schulfähigkeit sei nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens anzusehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischen Wissen und Können an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Förder- bzw. Sonderschulpflicht gehe.

Dem ist das Sozialgericht Berlin nicht gefolgt, der Anspruch auf Kostenübernahme für den Therapiestuhl für die Kita ergibt sich nach dem Urteil vom 28.05.2019 aus den Grundsätzen des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Die Versorgung mit dem Therapiestuhl für die Kindertagesstätte betrifft ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens, weil der begehrte Therapiesitz dem damals zwei Jahre alten Kind die Teilnahme an Beschäftigungsangeboten gemeinsam mit anderen Kindern in der Kita ermöglicht. Das Sozialgericht führt in dem Urteil aus:

„Da die Klägerin – anders als gleichaltrige Kinder – nicht selbständig sitzen kann, ist sie ohne ein Hilfsmittel, das das aufrechte Sitzen ermöglicht, nicht in der Lage, die anderen Kinder in ihren Aktionen beim Essen und Spielen in der Weise wahrzunehmen, wie es das Sitzen auf Augenhöhe ermöglicht. Ein in der Kindertagesstätte genutzter Therapiestuhl ermöglicht damit der Klägerin die Teilnahme an einem altersüblichen sozialen Lernprozess.“

Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass behinderte Menschen das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung erwerben können. Die Versorgung mit dem Therapiestuhl ist auch erforderlich, da das Zimmeruntergestell, das dem betroffenen Kind im vorangegangen einstweiligen Rechtsschutzverfahren zugestanden wurde (vgl. Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 07.12.2018, Az. S 208 KR 1865/18 ER), wesentliche Nachteile hinsichtlich des mittelbaren Behinderungsausgleichs gegenüber einem Therapiestuhl aufweist. Die Eingliederung, eine Teilhabe an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger und damit an einem altersüblichen sozialen Lernprozess, werde hiermit nicht ausreichend gewährleistet.

Fundstellen: Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 28.05.2019, Az. S 208 KR 1866/18; Beschluss vom 07.12.2018, Az. S 208 KR 1865/18 ER, Bundessozialgericht, Urteil vom 03.11.2011, Az. B 3 KR 8/11 R

Das Amtsgericht Bernau hält die Strafverfolgung von Cannabisdelikten für verfassungswidrig und hat diese Frage daher mit Beschluss vom 18.09.2019 dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Nach Auffassung des Amtsgerichts Bernau sind alle  Regelungen  des  Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) verfassungswidrig,  soweit  sie Cannabisprodukte  in  der  Anlage I  zu  §  1  Abs.  1  BtMG  mit  der  Folge  aufführen,  dass  der unerlaubte  Verkehr  mit  diesen  Stoffen  den  Strafvorschriften  des  Betäubungsmittelgesetzes unterliegt.

Auch die Strafverfolgung des Erwerbs von Cannabis hält das Amtsgericht Bernau für verfassungswidrig. Der Beschluss des Amtsgerichts Bernau wurde umfangreich begründet und nunmehr veröffentlicht. Die Bestrafung von Cannabisdelikten verstößt nach dem Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Bernau u. a. gegen das Freiheitsrecht  der  Bürger, den Gleichheitsgrundsatz, das Gesetzlichkeitsprinzip, die allgemeine Handlungsfreiheit und das Recht auf Rausch.

Das Amtsgericht Bernau hält eine verfassungskonforme Auslegung der Normen des Betäubungsmittelgesetzes etwa durch die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit, von einer Bestrafung abzusehen, für nicht möglich. Dies ergäbe sich vor allem aus der Strafrechtspraxis, die hiervon wenig Gebrauch mache. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht noch aus (Stand 22.04.2020).

Fundstellen:  Amtsgericht Bernau, Beschluss vom 18.09.2019, Az. 2 Cs 226 Js 7322/19 (346/19); Pressemitteilung vom 20.04.2020

 

Nachtrag (03.11.2023): Bundesverfassungsgericht weist Normenkontrollverfahren zur Verfassungswidrigkeit der Strafverfolgung von Cannabisdelikten zurück

Zwischenzeitlich hatten auch das Amtsgericht Münster und das Amtsgericht Pasewalk Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse erlassen, weil sie die Strafnormen des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) für verfassungswidrig erachteten, soweit diese den Umgang mit Cannabisprodukten betreffen. Die Amtsgerichte führten an, dass sich das strafbewehrte Cannabisverbot nicht mit dem Grundgesetz in Einklang bringen lasse. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorlagen allerdings mit dem Beschluss vom 14.06.2023, Az. 2 BvL 3/20, als unzulässig zurückgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht konnte keine Verfassungswidrigkeit erkennen.

Fundstellen: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.06.2023, Az. 2 BvL 3/20 (ebenso Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 05.07.2023, Az. 2 BvL 9/23)



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