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Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat in dem Beschluss vom 23.08.2023, Az. 49/22, entscheiden, dass die Rehabilitierungsgerichte die Haftähnlichkeit von Lebens- oder Arbeitsbedingungen anhand der konkreten Bedingungen des Einzelfalls zu prüfen haben, sie können sich nicht darauf zurückziehen, dass nur (klassische) Freiheitsentziehungen wie z. B. Haftstrafen vom strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz erfasst werden können. Denn das Leben unter haftähnlichen Bedingungen oder Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen sind dem Gesetze nach der Freiheitsentziehung gleichgestellt.

Der Betroffene hatte nach einer Verurteilung durch das Stadtgericht von Berlin u. a. wegen des Vorwurfs des staatsgefährdenden Gewaltaktes und der Vorbereitung einer Republikflucht eine zweijährige Haftstrafe verbüßen müssen. Hierfür war er auch rehabilitiert worden. Er erhielt aber zudem ein sogenanntes Berlinverbot im Anschluss an die verbüßte Haft. Er war für mehrere Jahre verpflichtet, seinen Aufenthalt in Gröditz im Kreis Riesa zu nehmen und im dortigen Stahlwerk zu arbeiten. Der Betroffene sei aus der Haftanstalt durch Mitarbeiter der Stasi zwangsweise nach Gröditz verbracht worden. Ihm sei Gröditz als Aufenthaltsort und ein bestimmter, ungeeigneter Raum als Wohnung zugewiesen worden. Der Betroffene habe zwangsweise Arbeit im Stahlwerk leisten müssen, welche unter ständiger Bewachung erfolgt sei. Für den Fall des Verlassens von Wohnort oder Arbeitsplatz sei dem Betroffenen die erneute Inhaftierung angedroht worden. Während dieser Zeit sei es zu Ansprachen und Schikanen durch Stasi-Mitarbeiter gekommen. Der Betroffene sei ständig durch die Volkspolizei kontrolliert und durch die Stasi überwacht worden.

Die Rehabilitierungsgerichte hatten den Antrag auf Rehabilitierung aber unter Verweis darauf als unzulässig zurückgewiesen, dass die erzwungene Arbeit an einem bestimmten Ort und das sogenannte Berlinverbot nicht vom strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz erfasst würden. Die geschilderten Lebens- und Arbeitsbedingungen hätten jedenfalls nicht das Ausmaß einer Freiheitsentziehung erreicht. Es habe kein Leben und Arbeiten unter haftähnlichen Bedingungen vorgelegen. Die hiergegen erhobene (Landes-) Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Der Verfassungsgerichthof des Landes Berlin erkannte einen Verstoß gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 15 Abs. 4 der Verfassung von Berlin. Der substantielle Anspruch des Betroffenen auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle wurde dadurch verletzt, dass die Rehabilitierungsgerichte die Prüfung des Sachverhaltes auf die Zuweisung des Arbeitsplatzes, eines Wohn- und Aufenthaltsortes und des Berlinverbotes reduziert haben, ohne die vom Betroffenen angeführte strenge Überwachung und sonstige Sonderbehandlung zu berücksichtigen.

Haftähnliche Lebens- und Arbeitsbedingungen im Sinne des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes dürfen nicht bloß im technischen Sinne einer Freiheitsentziehung verstanden werden. Der Begriff der Haftähnlichkeit von Lebens- oder Arbeitsbedingungen sei noch nicht gesetzlich und gerichtlich abschließend geklärt worden. Nach der Gesetzesbegründung werde vielmehr ein Spannungsfeld eröffnet, welches eine streng überwachte Einschränkung der Bewegungsfreiheit, strenge polizeiliche Aufsicht, Absonderung von Dritten und entwürdigende Behandlung einschließe. Es müssten daher alle Umstände des Einzelfalls herangezogen und geprüft werden. Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hob deswegen die ablehnende Rehabilitierungsentscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an das Kammergericht zurück.

Fundstellen: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 23.08.2023, Az. 49/22; Kammergericht, Beschluss vom 19.04.2022, Az. 7 Ws 5/20 REHA; Landgericht Berlin, Beschluss vom 08.01.2020, Az. 551 Rh 62/19

Das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz vermutet (widerleglich), dass die Anordnung der Unterbringung in ein Spezialheim der DDR – also beispielsweise in ein Spezialkinderheim oder einem Jugendwerkhof – der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich jetzt mit der Frage zu beschäfitgen, wann diese Vermutung als widerlegt anzusehen ist und ob hierfür pauschale Erziehungsschwierigkeiten ausreichen können.

Den ursprünglichen Rehabilitierungsantrag hatte das Oberlandesgericht Dresden abgelehnt, weil in den vorliegenden Unterlagen eine Arbeitsbummelei sowie das Fernbleiben des Betroffenen vom Jugendwohnheim vermerkt worden seien. In einem späteren Strafurteil wurde von Schulbummelei und Straftaten gesprochen. Das Oberlandesgericht meinte aus dem Umtstand, dass der Betroffene zwischen der Unterbringung im Spezialkinderheim und im Jugendwerkhof zeitweise in einem Normalkinderheim beziehungsweise in einem Jugendwohnheim untergebracht worden war, den Schluss ziehen zu können, dass die damalige Jugendhilfe bestrebt war, erkennbaren Verbesserungen der Erziehungssituation Rechnung zu tragen. Die Rehabilitierung war demnach abgelehnt worden, weil die gesetzliche Vermutung der Rechtsstaatswidrigkeit als widerlegt angesehen wurde. Die Einweisungsentscheidungen seien angesichts der Hinweise auf Erziehungsschwierigkeiten und eine ungenügende Lernbereitschaft als aus rein fürsorgerischen Gründen erfolgt anzusehen gewesen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 31.07.2023 diese Argumentation als willkürlich abgelehnt. Eine Rehabilitierung scheide nicht bereits dann aus, wenn  Anhaltspunkte auf die typischen Regeleinweisungsgründe vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht führt in dem Beschluss aus, dass es mittlerweile anerkannt ist, dass in den Spezailheimen ein System herrschte, das sich aus strengster Disziplinierung, entwürdigenden Strafen, genauester Kontrolle des Tagesablaufs, Abschottung von der Außenwelt und ideologischer Indoktrination zusammensetzte, und in dem das Kind oder der Jugendliche zur bedingungslosen Unterwerfung unter die staatliche Autorität gezwungen werden sollte.

Nach den Forschungsergebnissen zur Heimerziehung in der DDR stellten demnach pauschal umschriebene Erziehungsschwierigkeiten, ungenügende Lernbereitschaft, Schul- oder Arbeitsbummelei typische Begründungen für die Heimerziehung in einem Spezialkindereheim dar. Vor diesem Hintergrund können nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sachfremde Zwecke der Unterbringung nicht bereits durch pauschale Verweise auf diese typischen Regeleinweisungsgründe ausgeschlossen werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat daher die ablehnende Rehabilitierungsentscheidung wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot (Art. 3 GG) aufgehoben, da die Ablehnung der gesetzllichen Regelvermutung im vorliegenden Fall in nicht mehr nachvollziehbarer und die Rehabilitierung damit in willkürlicher Weise abgelehnt worden sei.

Fundstelle: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 31.07.2023, Az. 2 BvR 1014/21

Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluss vom 09.12.2021, Az. 2 BvR 1985/16, erneut die Pflicht zur Amtsermittlung des Sachverhaltes im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren betont und hob ablehnende Rehabilitierungsbeschlüsse des Landgerichts Schwerin und des Oberlandesgerichts Rostock daher auf. Die Sache wird nunmehr erneut vor dem Landgericht Schwerin verhandelt.

Der Betroffene war in ein Heim eingewiesen worden, nachdem er zusammen mit der Mutter beim Versuch einer sogenannten Republikflicht über die Tschechoslowakei im Alter von 13 Jahren inhaftiert worden war. Die Mutter wurde strafrechtlich verurteilt und konnte nach einer mehrmonatigen Haftstrafe nach Westdeutschland ausreisen. Ihren Sohn konnte sie erst 6 Monate später aus dem Heim abholen.

Der Rehabilitierungsantrag des betroffenen Heimkindes wurde von den Rehabilitierungsgerichten dennoch abgelehnt. Dies war nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig, die Gerichte hätten den Sachverhalt umfassend aufklären müssen. Im konkreten Fall hätten sie den Hinweisen auf die Aufnahmebereitschaft des älteren Halbbruders, der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Bundesrepublik lebte, sowie der Großeltern stiefväterlicherseits nachgehen müssen.

Zudem hätte aufgeklärt werden müssen, weshalb der Betroffene nach der Ausreise der Mutter noch weitere sechs Monate im Heim verbringen musste. Das Rehabilitierungsgericht durfte hier nicht einfach von organisatorisch-bürokratischen Hemmnissen ausgehen, ohne dies weiter aufgeklärt zu haben. Zumal sich für das Vorliegen der angeblich organisatorisch-bürokratischer Hemmnisse in den Akten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine dokumentierten Verfahrensschritte von einer bestimmten Dauer finden.

Vom Oberlandesgericht angenommene Unterhaltsrückstände und diesbezügliche Unstimmigkeiten dürften jedenfalls unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kein anerkennenswertes Hemmnis für die verzögerte Heimentlassung darstellen. Das Bundesverfassungsgericht nahm insoweit auch einen Verstoß gegen das Willkürverbot durch die Begründung de abgelehnte Rehabilitierung an.

Fundstellen: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 09.12.2021, Az. 2 BvR 1985/16, Pressemitteilung Nr. 110/2021 „Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde betreffend die Rehabilitierung des Beschwerdeführers wegen einer Heimunterbringung in der ehemaligen DDR“ vom 29.12.2021

Die gesetzliche Vermutung der politischen Verfolgung und des sachfremden Einweisungsgrundes für Spezialheime und Jugendwerkhöfe beschäftigt weiterhin die Gerichte. In einem vom Brandenburgischen Oberlandesgericht entschiedenen Fall ging es um die Rehabilitierung eines Heimkindes, welches in einem Spezialkinderheim untergebracht worden war.

Das Landgericht Potsdam konnte die Gründe der Einweisung nicht mehr vollständig aufzuklären, da die Unterlagen aus dem Anordnungsverfahren nicht mehr auffindbar waren. Aus zwei Schulzeugnissen aus der Zeit vor der Einweisung ging zwar hervor, dass die Betroffene Schwierigkeiten habe die schulischen und außerschulischen Aufgaben zu erfüllen und dass sie im Unterricht störe. Sie habe erhebliche Fehlzeiten in der Schule, sie habe im Schuljahr an 80 Tagen gefehlt, wovon 74 Tage unentschuldigt waren. Die schulischen Leistungen wurden dagegen mit Noten zwischen „genügend“ und „sehr gut“ bewertet.

Das Landgericht konnte keine spezifischen Umstände erkennen, die gerade die Unterbringung im Spezialheim gerechtfertigt hätte. Es kämen auch Gründe für die Heimeinweisung in Betracht, die nicht allein in der Person der betroffenen Antragstellerin gelegen haben. Das Landgericht rehabilitierte die Betroffene daher für die Zeit der Unterbringung im Spezialkinderheim.

Die Staatsanwaltschaft Potsdam hatte gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt, um zu klären, ob eine massive Verletzung der Schulpflicht als Tatsache anzuerkennen ist, die die gesetzliche Vermutung der politischen Verfolgung oder die Vermutung eines sachfremden Einweisungsmotivs aus § 10 Abs. 3 StrRehaG widerlegt.

Das Brandenburgische Oberlandesgericht verneinte diese Frage in dem Beschluss vom 07.01.2021, da im vorliegenden Fall nicht positiv festgestellt werden konnte, dass die Heimeinweisung fürsorglich bedingt war. Hierfür hätte das Landgericht nämlich auch feststellen müssen, dass die Unterbringung im Normalkinderheim nicht ausreichend gewesen wäre.

Fundstellen: Landgericht Potsdam, Beschluss vom 22.06.2020, Az. 2 Reha 15/18; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 07.01.2021, Az. 2 Reha 15/20

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat sich in dem Beschluss vom 16.06.2021, Az. 108/20, mit einem Rehabilitierungsverfahren befasst, in dem es um einen Betroffenen ging, der u. a. im Spezialkinderheim „Rankenheim“ in Groß-Köris, im Sonderkinderheim in Burgstädt, im Durchgangsheim in Alt-Stralau, im Jugendwerkhof in Hennickendorf untergebracht worden war und hierfür seine Rehabilitierung beantragt hatte. Für die Zeit im Jugendwerkhof Torgau war der Antragsteller bereits in einem gesonderten Verfahren rehabilitiert worden.

Der Antragsteller hatte seinen Antrag auf Rehabilitierung damit begründet, dass die Einweisungen politisch motiviert waren, er mehrfach versucht habe, im Alter von neun Jahren die innerdeutsche Grenze zu passieren und zu seinem in die Bundesrepublik Deutschland ausgereisten Vater zu ziehen. Er verwies zudem auf die menschenunwürdige Behandlung während seiner Heimunterbringungen, wobei er schwerste körperliche und seelische Misshandlungen erlebt habe.

Das Kammergericht lehnte diesen Antrag ab, da angeblich Fürsorgegründen für die Einweisungen vorgelegen hätten. Die Mutter des Antragstellers habe Alkoholprobleme gehabt, an deren Folgen sie 1974 auch verstorbenen sei. Zudem habe es unentschuldigtes Fehlen des Antragstellers in der Schule gegeben. Die gesetzliche Vermutung rechtsstaatswidriger Einweisungsgründe sei daher widerlegt.

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hob nun die ablehnende Entscheidung des Kammergerichts wegen Verstoßes das Willkürverbot, den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes und wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf.

Der Verfassungsgerichtshof führt in der Entscheidung aus, dass das Gebot effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen muss. Der Antragsteller hatte einen Verstoß gegen sein Recht auf Ausreise dargelegt, welches zu den grundlegenden Menschenrechten gehört. Das Gericht hätten daher die näheren Umstände der Ausreise des Vaters, der Heimeinweisungen und der Fluchtversuche untersuchen müssen. Das Gericht hätte insoweit alle Erkenntnisquellen wie z. B. die Vernehmung des Betroffenen und der von ihm genannten Zeugen zu nutzen gehabt.

In dem vom Verfassungsgerichtshof zu entscheidenden Fall kam zudem eine Rehabilitierung wegen groben Missverhältnisses zwischen dem Anlass der Heimeinweisung und der angeordneten Unterbringung in Betracht. Dafür hätte das Kammergericht die damals herrschenden Lebensbedingungen in den Heimen im Rahmen Amtsermittlungspflicht aufklären müssen. Dem stand auch nicht entgegen, dass die Mutter ab dem Jahre 1963 nicht mehr bereit war, den Antragsteller wieder bei sich aufzunehmen. Es in dem Fall nämlich Hinweise darauf gab, dass die fehlende Aufnahmebereitschaft des Kindes durch die Mutter zumindest auch durch die Angst vor Repressalien verursacht worden war oder sich sonst als kausale Folge der zwangsweisen Einweisung mit daran anknüpfender Entfremdung und der Angst darstellte.

Die Annahme des Kammergerichts, dass die gesetzliche Vermutung einer politischen oder sachfremden Einweisungsmotivation im behandelten Fall widerlegt worden sei, verstoße zudem gegen das Willkürverbot. Die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen gehe nur dann zu Lasten des Antragstellers, wenn die gesetzliche Vermutung nicht eingreife. Wenn die Ermittlungen des Gerichts auf fürsorgliche Gesichtspunkte und auf sachfremde bzw. politische Gründe der Einweisung hindeuten, muss feststehen, dass der eine oder der andere Grund ausschlaggebend war. Steht dies nach Ausschöpfung aller möglichen Erkenntnisquellen nicht fest, greift die gesetzliche Vermutung zu Gunsten des ehemaligen Heimkindes. Gegen die Widerlegung der Regelvermutung spreche zudem, wenn der Betroffene „nahezu ausnahmslos in der Umerziehung dienenden, teil geschlossenen Heimen untergebracht war und nicht in regulären, offenen Kinderheimen.“

Der verfassungsrechtliche Verstoß gegen das rechtliche Gehör liege darin, dass das Gericht die Argumentation zu den Ausreisebestrebungen von Vater und Sohn und der alternativen Unterbringung bei seinem Vater in der Bundesrepublik Deutschland als unbeachtlich angesehen habe. Es hätte diesen Vortrag in Betracht ziehen und ihm gegebenenfalls weiter nachgehen müssen. Das Kammergericht muss nun erneut über den Fall entscheiden.

Fundstelle: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 16.06.2021, Az. 108/20

Nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte, stattfand. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Allerdings divergiert die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu den Anforderungen an die Widerlegung dieser gesetzlichen Regelvermutung ganz erheblich.

Das Thüringer Oberlandesgericht in Jena hat nun in dem Beschluss vom 16.11.2020, Az. 1 Ws-Reha 6/17, festgestellt, dass diese Vermutung nicht schon durch die Benennung gängiger, nach der Verordnungslage und der wissenschaftlich belegten Rechtspraxis erwartbarer Anordnungsgründe in der Einweisungsentscheidung widerlegt wird.

Die Widerlegung setzt vielmehr die Feststellung atypischer, über eine Schwererziehbarkeit im vorbeschriebenen Sinne hinausgehender Umstände voraus, die die Maßnahme im konkreten Einzelfall ausnahmsweise nicht als rehabilitierungswürdiges (System-)Unrecht erscheinen lassen.

Das Thüringische Oberlandesgericht begründet das in dem Beschluss unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung wie folgt:

„Nur so lässt sich der mit der Gesetzesfassung begründeten Gefahr begegnen, dass Betroffene, deren Jugendhilfeakten noch vorhanden sind, auf Grundlage einer möglicherweise die tatsächlichen Anordnungsgründe verschleiernden Aktenlage schlechter gestellt werden als die, deren Akten nicht mehr aufgefunden werden können (ohne diese vom Gesetzgeber offenbar in Kauf genommene Konsequenz allerdings gänzlich ausschließen zu können).“

Das Thüringische Oberlandesgericht zieht den Schluss, dass die gesetzliche Vermutung nicht schon dann entkräftet ist, wenn sie durch den Beweis ihrer möglichen Unrichtigkeit nur erschüttert ist. Sie muss vielmehr durch den vollen Beweis ihres Gegenteils widerlegt sein, das Gericht muss also die Überzeugung vom Gegenteil der Vermutung gewinnen.

Fundstelle: Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16.11.2020, Az. 1 Ws-Reha 6/17

Die neue Gesetzeslage im Rehabilitierungsrecht für DDR-Unrecht (vgl. Blogartikel „Neue Rehabilitierungsgesetze für DDR-Unrecht in Kraft“ vom 28.11.2019) führt mittlerweile auch zu einer veränderten Rechtsprechung. Das Oberlandesgericht Rostock hatte mit Beschluss vom 12.2.2020, Az. 22 Ws_Reha 2/20, über einen solchen Fall zu entschieden.
Das betroffene ehemalige Heimkind war in der DDR in das Durchgangsheim Schwerin und in den Jugendwerkhof „Hübner-Wesolek“ in Bernburg eingewiesen worden und hatte diesbezüglich seine Rehabilitierung nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz beantragt. Das Landgericht Schwerin lehnte den Antrag ab und verweigerte selbst die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Das Oberlandesgericht hatte über die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Schwerin zu entscheiden und kam zu dem Ergebnis, dass die ablehnende Entscheidung des Landgerichts nach dem damals geltenden (alten) Recht rechtmäßig gewesen sei, nunmehr aber nach der Gesetzesänderung eine Rehabilitierung zu erfolgen habe. Das Oberlandesgericht hob daher die Entscheidung des Landgerichts Schwerin auf und rehabilitierte die Antragstellerin vollständig.
Nach der neuen Rechtslage gilt eine Regel nach der vermutet wird, dass Einweisungen in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung der politischen Verfolgung oder sachfremden Zwecken dienten. Dem ehemaligen Heimkind eines Spezialheims wird damit die Beweisführung erleichtert. Im vorliegenden Fall hatte die Jugendhilfekommission, die Einweisung u. a. mit angeblichen Erziehungsschwierigkeiten der betroffenen Person begründet. Das reicht aber nicht aus, um die neue Regelvermutung zu entkräften, zumal gegen die betroffene Person wegen der Nichtanzeige einer geplanten Republikflucht ermittelt worden war. Das Strafverfahren gegen die betroffene Person war von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden, weil die Jugendhilfe Maßnahmen gegen die Betroffene eingeleitet hatte. Eine politische Motivation der Heimeinweisung lag mithin nahe.
Das Oberlandesgericht hat in dem Beschluss zudem klargestellt, dass unter die neu eingeführte Vermutungsregel auch Durchgangsheime und Jugendwerkhöfe fallen. Prozesskostenhilfe wurde nachträglich für beide Instanzen bewilligt.

Fundstelle: Oberlandesgericht Rostock, Beschluss vom 12.02.2020, Az. 22 Ws_Reha 2/20

Die vom Bundestag am 24.10.2019 beschlossenen Gesetzesänderungen der Rehabilitierungsgesetze (vgl. Blogartikel vom 27.10.2019: Änderungen in den Rehabilitierungsgesetzen beschlossen), wurden mittlerweile vom Bundespräsidenten ausgefertigt und am 28.11.2019 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Die Gesetzesänderungen traten daher am 29.11.2019 in Kraft.

Fundstelle: Bundesgesetzesblatt, Jahrgang 2019 Teil I Nr. 42 (BGBl. 2019 I 1752)

Der Bundestag hat am 24.10.2019 in dritter Lesung umfangreiche Änderungen an den Rehabilitierungsgesetzen für DDR-Unrecht verabschiedet.

Danach wird eine Vermutung aufgestellt, dass die Unterbringungsanordnung in einem Kinderheim rechtsstaatswidrig war, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare der Zwangsumerziehung dienende Einrichtung stattfand. Dieselbe Vermutung gilt, wenn gleichzeitig mit der Unterbringung der Kinder rechtsstaatswidrige, freiheitsentziehende  Maßnahmen  gegen  die  Eltern oder Elternteile vollstreckt wurden. Es muss ein Sach- und Zeitzusammenhang bestehen.

Die Opferrente wird von 300,00 € monatlich auf 330,00 € erhöht. Die dafür notwendige Haftdauer wird von 180 Tagen auf 90 Tage halbiert! Verfolgte nach dem beruflichen Rehabilitierungsgesetz erhalten statt 214,00 € monatlich nunmehr 240,00 € (bzw. für Rentner 180,00 € statt wie bisher 153,00 €).

Heimkinder, die wegen der rechtsstaatswidrigen Haft der Eltern ins Heim gekommen sind und nicht rehabilitiert wurden, weil sie nicht selbst verfolgt wurden, bekommen trotz einer negativen Rehabilitierungsentscheidung einen eigenen Anspruch auf die Opferrente (wenn die weiteren Voraussetzungen vorliegen). Sie können nunmehr also direkt die Opferrente beantragen.

Die Antragsfristen werden gestrichen.

Für festgestellte Zersetzungsmaßnahmen, für die bisher keine Ausgleichsleistungen gezahlt wurden, wird eine einmalige Zahlung in Höhe von 1.500,00 € eingeführt.

Fundstelle: Deutscher Bundestag, Mitteilung vom 24.10.2019

Die Bundesregierung hat -wie bereits berichtet- einen Gesetzesentwurf  zur Änderung der Rehabilitierungsgesetze für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR beschlossen. Danach sollen die Fristen zur Antragsstellung gestrichen und die Beweisführung erleichtert werden (vgl. Blogartikel vom 17.05.2019: „Bundesregierung will Fristen für Rehabilitierungsanträge für DDR-Unrecht streichen“). Aber was hat die Bundesregierung genau geplant? Die Antragsfristen sollen gestrichen werden, derzeit gilt eine Frist zur Antragstellung bis zum 31.12.2019. Das betrifft sowohl Anträge zur strafrechtlichen als auch zur beruflichen und verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung.

Weiterhin soll für den Fall, dass das Gericht nicht feststellen kann, dass die Anordnung eine Heimunterbringung der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, das Gericht diese Tatsache zugunsten des jeweiligen Antragstellers für festgestellt erachten können. In § 10 StrRehaG soll der folgende dritte Absatz eingefügt werden:

„Kann die Tatsache, dass eine Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, nicht festgestellt werden,


1. infolge der Lage, in die der Antragsteller durch die Unterbringung geraten ist,
oder
2. infolge des Umstandes, dass

a) Urkunden verloren gegangen sind,
b) Zeugen verstorben oder unauffindbar sind oder
c) die Vernehmung von Zeugen mit Schwierigkeiten verbunden ist, die in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Aussage stehen,

so kann das Gericht diese Tatsache unter Würdigung aller Umstände zugunsten des Antragstellers für festgestellt erachten.“

Es stellt in den Rehabilitierungsverfahren ein häufiges Problem dar, dass Unterlagen wie z. B. die ursprüngliche Jugendhilfeakte mittlerweile vernichtet wurden oder nicht mehr auffindbar sind. Teilweise werden von den Behörden sogar jetzt noch Unterlagen vernichtet („kassiert“), weil die Aufbewahrungsfristen abgelaufen seien und nicht in die entsprechende Archive überführt. Diese Änderung könnte daher vielen Betroffenen erheblich weiter helfen, wenn sie denn tatsächlich Gesetzeskraft erlangt.

Für Kinder von politisch Verfolgten Eltern, die ins Heim eingewiesen wurden, bleibt die Ausgangslage für eine Rehabilitierung schwierig (vgl. auch Blogartikel vom 17.06.2018: „War eine DDR-Heimeinweisung eines Kindes rechtsstaatswidrig bei politischer Verfolgung der Eltern?“). Für ehemalige Heimkinder von politisch verfolgten Eltern soll eine neue Regelung in § 18 StrRehaG eingeführt werden, damit die ehemaligen Heimkinder trotz negativer Rehabilitierungsentscheidung Unterstützungsleistungen von der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge erhalten können. Eine selbstständige Rehabilitierung ist für die Betroffenen in dem Entwurf der Bundesregierung (anders als noch im Entwurf des Bundesrats vom 03.11.2017, BR-Drs. 642/17) nicht vorgesehen. Eine Gleichstellung von Kindern, die wegen der politischen Verfolgung der Eltern eine Heimunterbringung in der DDR erleiden mussten, mit anderen rehabilitierten Heimkindern ist also bedauerlicher Weise nicht vorgesehen. Die ehemaligen Heimkinder von politisch verfolgten Eltern hätten danach keinen Anspruch auf eine eigene Rehabilitierung. Sie könnten aber immerhin Unterstützungsleistungen bei der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge beantragen. Die rechtliche Position von ins Heim eingewiesenen Kindern politisch verfolgter Eltern bliebe also schwierig.

Weitere bekannte Schwachstellen der Rehabilitierungsgesetze werden dagegen von der Bundesregierung überhaupt nicht in den Gesetzesentwurf aufgenommen. Der Bundesrat hat in einer Entschließung vom 19.10.2018 beispielsweise darauf hingewiesen, dass u. a. keine Ausgleichsleistungen für Opfer von Zersetzungsmaßnahmen vorgesehen sind, dass für verfolgte Schüler kaum Leistungen beanspruchen können, Opfer von Zwangsaussiedlungsmaßnahmen nicht ausreichend entschädigt werden,  die Verfolgungszeit für eine berufliche Benachteiligung mit mindestens drei Jahren viel zu lang angesetzt ist. Es bleibt nur zu hoffen, dass im Gesetzgebungsverfahren noch entsprechende Verbesserungen eingefügt werden können.

Fundstellen: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, Informationsseite zum Gesetzgebungsvorhaben vom 15.05.2019; Bundesrat, Gesetzesentwurf vom 03.11.2017, BR-Drs. 642/17; Entschließung vom 19.10.2019, BR-Drs. 316/18

Nach der Pressemitteilung der Bundesregierung vom 15.05.2019 sollen die Fristen für Rehabilitierungsanträge für DDR-Unrecht gestrichen werden. Bislang gilt als letzter möglicher Termin für die Antragstellung der 31.12.2019.

Die Beweisführung bezüglich der Rehabilitierung von DDR-Heimkindern soll erleichtert werden. Es soll insbesondere für ehemalige Heimkinder, die wegen der politischen Verfolgung ihrer Eltern in ein Heim, Spezialheim oder Jugendwerkhof eingewiesen wurden, eine einfachere Regelung zur Rehabilitierung geschaffen werden.

Bereits im Koalitionsvertrag war vereinbart worden, dass die Antragsfristen „im Einvernehmen mit den Bundesländern“ aufgehoben werden sollen und geprüft werden soll, wie die bestehenden rechtlichen Grundlagen der Entschädigung für die Heimkinder verbessert werden können. Es bleibt daher abzuwarten, wie die neue konkrete rechtliche Regelung ausgestaltet sein wird. Bislang hat die Bundesregierung nur einen Gesetzentwurf beschlossen, noch gilt die alte Rechtslage.

Fundstelle: Bundesregierung, Pressemitteilung „Mehr Unterstützung für DDR-Opfer“ vom 15.05.2019

Immer wieder wird kritisiert, dass die Rechtsprechung in den Bundesländern bezüglich der Rehabilitierung von DDR-Unrecht relativ stark voneinander abweicht. Was in einem Bundesland als rechtsstaatswidrig rehabilitiert wird, wird von Gerichten in anderen Bundesländern gehalten. Gerade was die Rehabilitierung von ehemaligen Heimkindern angeht, bestehen in der Rechtsprechung größere Divergenzen (vgl. „Rechtsstaatswidrigkeit einer Heimeinweisung in ein „Normalkinderheim“ der DDR“ vom 17.09.2018).

Das Kammergericht in Berlin vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass bei Heimunterbringungen in der DDR nur die Einweisungsverfügung als solche, nicht hingegen deren Folgen, also die konkreten Lebensbedingungen in dem jeweiligen Heim, zu prüfen sind. Der gegenläufigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Sachsen-Anhalt in Naumburg schließt sich das Kammergericht ausdrücklich nicht an. Seit einigen Jahren hebt das Oberlandesgericht Sachsen-Anhalt Einweisungen von Kindern und Jugendlichen in Spezialheime und Jugendwerkhöfe aufgrund des dort verfolgten Zwecks der Umerziehung in der Regel als unverhältnismäßig auf.

Seine restriktive Rechtsprechung muss das Kammergericht nun aber überprüfen. Denn der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat mit Beschluss vom 16.01.2019, Az. 145/17, eine Entscheidung des Kammergerichts zu DDR-Heimeinweisungen aufgehoben. Das Verfassungsgericht sah das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 15 Abs. 4 Satz 1 der Berliner Verfassung dadurch verletzt, dass  das Kammergericht nicht ausreichend aufgeklärt hat, ob und in welchem Umfang es in den Spezialkinderheimen der DDR systematisch zu menschenrechtsverletzenden Übergriffen gekommen ist und was Ursache dafür war. Das Gericht ist seiner Pflicht zur Amtsermittlung nicht nachgekommen, weil es sich mit dem aktuellen Forschungsstand zu den Lebensumständen in den Spezialheimen der DDR nicht nachvollziehbar auseinandersetzt hat. Der Verfassungsgerichtshof führt wörtlich in dem Beschluss vom 16.01.2019 aus:

„Gegebenenfalls hätte es nahegelegen, mithilfe eines Sachverständigen weiter zu ermitteln, ob und in welchem Umfang es in den Spezialheimen […] systematisch zu menschenrechtsverletzenden Übergriffen gekommen ist und was Ursache dafür war.“

Eine Änderung der Berliner Rechtsprechung zu den Einweisungen in Spezialheime und Jugendwerkhöfe erscheint daher möglich, die nächste Entscheidung des Kammergerichts wird es zeigen.

Fundstelle: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 16.01.2019, Az. 145/17

Wie bereits mehrfach berichtet, begegnet die Rehabilitierung von Heimkindern in der DDR oft rechtlichen Schwierigkeiten (vgl. „War eine DDR-Heimeinweisung eines Kindes rechtsstaatswidrig bei politischer Verfolgung der Eltern?“ vom 17.06.2018, „Eine der politischen Repression dienende Heimeinweisung ist rechtsstaatswidrig“ vom 12.11.2017). In der DDR gab es im Wesentlichen drei Typen von Heimen sogenannte Normalkinderheime, Spezialheime und Jugendwerkhöfe. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts des Landes Sachsen-Anhalt in Naumburg war die Einweisung in ein Spezialheim oder in einen Jugendwerkhof im Regelfall rechtsstaatswidrig, wenn der Eingewiesene nicht zuvor durch massive Straffälligkeit aufgefallen ist oder sich gemeingefährlich verhalten hat. Die Einweisung ist dann als unverhältnismäßig zu beurteilen, sie war nicht mehr am Kindswohl orientiert, sondern diente der Umerziehung (vgl. Beschluss des Oberlandesgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 26. Oktober 2017, Az. 2 Ws (Reh) 36/17). Das Oberlandesgericht führt in dem Beschluss vom 26.10.2017 aus, dass es aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse überzeugt sei, dass die Erziehung in Spezialheimen der Jugendhilfe maßgeblich darauf ausgerichtet war, die Persönlichkeit der Betroffenen zu brechen, um aus ihnen Persönlichkeiten nach den ideologischen Vorstellungen des SED-Regimes zu formen. Zu diesem Zwecke wurden schwere Menschenrechtsverletzungen planmäßig eingesetzt, weshalb regelmäßig eine Rechtsstaatswidrigkeit bei einer Einweisung in ein Spezialheim (oder einen Jugendwerkhof) angenommen wird.
Andere Rehabilitierungsgerichte sehen diese Rechtsprechung kritisch und prüfen auch bei Einweisungen in einen Jugendwerkhof vor allem die in dem Einweisungsbeschluss wiedergegebenen Gründe auf ihre Rechtsstaatswidrigkeit. Die in den Heimen herrschenden Umstände treten dann bei der Prüfung dagegen in den Hintergrund. Das Brandenburgische Oberlandesgericht prüft dagegen -ähnlich wie das Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt- im Rahmen einer Einzelfallprüfung auch, ob die Einweisung gegen das Übermaßverbot wegen der in dem jeweiligen Heim herrschenden Umstände verstieß.
In dem von mir für das ehemalige Heimkind geführten Rehabilitierungsverfahren hatte das Brandenburgische Oberlandesgericht über die Einweisung in ein sogenanntes „Normalkinderheim“ zu entscheiden. Das Oberlandesgericht kam auch in diesem Verfahren zu dem Ergebnis, dass die Einweisung als rechtsstaatwidrig zu beurteilen war, weil ein grobes Missverhältnis zwischen Anlass für die Unterbringungsentscheidung und der angeordneten Rechtsfolge vorlag. Die Einweisung des Jugendhilfeausschusses wurde darauf gestützt, dass bezüglich der häuslichen Ordnung und Sauberkeit in der Familie Defizite bestanden haben sollen und beim Bruder erste Verwahrlosungserscheinungen aufgetreten sein sollen. Die Kinder seien schmutzig und ohne die notwendigen Arbeitsmaterialien in der Schule erschienen. Sie hätten eine ungenügende Arbeitseinstellung gezeigt, keine Hausaufgaben angefertigt und zeitweilig den Unterricht gebummelt. Die Eltern seien keiner geregelten Arbeit nachgegangen, weswegen es zu finanzielle Problemen gekommen sei. Die Betroffene habe sich angeblich durch Lügen und Diebstähle isoliert, ihr Freundeskreis habe sich zudem aus Kindern sozialgefährdeter Familien zusammengesetzt.
Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat richtiger Weise festgestellt, dass das keine tragfähige Begründung für eine gravierende soziale Gefährdung darstelle, die einen plausiblen Anlass für die Herauslösung der Betroffenen aus dem Elternhaus rechtfertigen könnte. Der Beschluss stehe vielmehr im Einklang mit der in der DDR herrschenden Rechtspraxis, ein anderes Leben als das eines fleißigen und staatsbejahenden Schülers als asozial zu stigmatisieren. Die Heimunterbringung sollte auch nach dem DDR-Recht immer das letzte Mittel sein, was hier erkennbar nicht der Fall war. Die Einweisung stellt daher auch in Anbetracht der damit verbundenen Konsequenzen einen Verstoß gegen das Übermaßverbot dar und wurde daher zutreffend als rechtsstaatswidrig aufgehoben.

Fundstellen: Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 21.06.2018, Az. 2 Ws Reha 14/17

Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 2015 entschieden, dass die Heimeinweisung eines Kindes nicht schon deshalb rechtsstaatswidrig war, wenn die Eltern aufgrund politischer Verfolgung inhaftiert wurden und nur aus diesem Grund ein Kind in einem Heim untergebracht wird (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.03.2015, Az. 4 StR 525/13). In einem solchen Fall ist die Einweisung nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs lediglich die Folge einer Inhaftierung, diente aber selbst nicht dazu, das Kind politisch zu verfolgen.

Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs war ganz erheblicher Kritik ausgesetzt, einige Bundesländer haben bereits eine Gesetzesinitiative gestartet, das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz entsprechend zu ändern, dass auch Kinder die aufgrund der politischen Inhaftierung der Eltern in ein Heim eingewiesen wurden, selbst zu rehabilitieren sind (vgl. Bundesrat, Drucksache 642/17 vom 03.11.2017). Den Kindern stünden in einem solchen Fall grundsätzlich auch die Haftentschädigung und weitere Leistungen wie die Opferrente zu (vgl. auch den Blogeintrag „Eine der politischen Repression dienende Heimeinweisung ist rechtsstaatswidrig“ vom 12.11.2017).

Allerdings kann auch nach der derzeitigen Rechtslage ein ehemaliges Heimkind wegen der politischen Verfolgung eines Elternteils rehabilitiert werden, wenn es dem ehemaligen Heimkind gelingt den Nachweis zu erbringen, dass die Heimeinweisung als politisches Druckmittel gegen die Eltern eingesetzt wurde. In einem solchen Fall ist auch die Heimeinweisung des Kindes für rechtsstaatswidrig zu erklären, denn diese war nicht von fürsorglichen Motiven sondern (auch) von politischen getragen. Der Bundesgerichtshof hatte in dem oben genannten Beschluss auch ausdrücklich festgestellt, dass es unerheblich sei, ob sich der mit der Heimeinweisung verfolgte Verfolgungszweck gegen die unterzubringende Person selbst oder Dritte richtete. Auch die zur politischen Disziplinierung von Eltern oder Verwandten angeordnete Heimunterbringung stellt sich als politische Verfolgung im Sinne des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes dar (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.03.2015, Az. 4 StR 525/13).

Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat in einem von mir für den Betroffenen geführten Verfahren daher auch entschieden, dass der Heimaufenthalt meines Mandanten ab dem nachgewiesenen Zeitpunkt der politischen Verfolgung der Mutter für rechtsstaatswidrig zu erklären ist (vgl. Brandenburgisches OberlandesgerichtBeschluss vom 07.11.2017, Az. 2 Ws (Reha) 13/16).

Der Antragsteller war bereits kurz nach der Geburt in ein Heim gekommen. Seine Mutter war wenig später nach Westdeutschland gegangen, nachdem sie wegen gewerbsmäßiger Unzucht, Einfuhr von Zahlungsmitteln und Landstreicherei verurteilt worden war. Der Antragsteller wurde in ein Heim eingewiesen, die Jugendhilfe übernahm die Vormundschaft. Er verbachte seine Kindheit in unterschiedlichen Heimen sowie zeitweilig in einer Bezirksnervenklinik.

Der Versuch der Mutter im Jahr 1960 wieder in die DDR zu gelangen, scheiterte daran, dass die Mutter von der DDR nicht wieder aufgenommen und stattdessen in den Westen ausgewiesen wurde. Das Oberlandesgericht sah es trotz einiger, darauf hindeutender Indizien als nicht ausreichend erwiesen an, dass die Mutter wegen ihrer fehlenden Bereitschaft, mit der Staatssicherheit zu kooperieren, ausgewiesen wurde. Das Oberlandesgericht war nicht überzeugt davon, dass bereits zu diesem Zeitpunkt der in einem Heim befindliche Sohn als Druckmittel eingesetzt wurde.

Allerdings ließ sich in dem Rehabilitierungsverfahren nachweisen, dass der betroffene Sohn bei dem erneuten Einreiseversuch der Mutter im Jahr 1968 sehr wohl als Druckmittel der Stasi gegen die Mutter eingesetzt wurde, diese zu einer Mitarbeit bei der Stasi zu nötigen. Die Mutter ging dieses Mal darauf ein, für die Stasi zu arbeiten. Sie erhoffte sich damit, dass ihr die DDR die Möglichkeit einräume, wieder bei ihrem Sohn zu sein und für diesen in der Zukunft sorgen zu können. Die Mutter willigte damals ein, zunächst in Westberlin für die Stasi als Spion zu arbeiten. Allerdings wurde sie dort von der Westberliner Polizei unter dem Verdacht des Führens landesverräterischer Beziehungen kurzzeitig festgenommen und verhört. In dem Verhör der Westberliner Polizei gestand sie, dass sie für die Stasi tätig war und wurde im Anschluss aus der Untersuchungshaft unter Auflagen entlassen. Sofort flüchtete sie zurück in die DDR und wurde in einem Aufnahmelager untergebracht. Jetzt konnte sie endlich in der Nähe ihres Sohnes sein, den sie in der Bezirksnervenklinik besuchen konnte. Das Glück des Wiedersehens währte allerdings nur kurz, als die Stasi herausfand, dass die Mutter nicht nur festgenommen und verhört worden war, sondern auch gegenüber der (West-)Berliner Polizei gestanden hatte, für die Stasi zu arbeiten. Diese Dekonspiration gegenüber dem Klassenfeind wurde der Mutter des Betroffenen nicht verziehen. Aufgrund dieses von der Stasi als Verrat gewerteten Verhaltens der Mutter wurde diese umgehend aus der DDR wieder in den Westen abgeschoben und der betroffene Sohn musste bis zu seiner Volljährigkeit im Heim bleiben.

Das Oberlandesgericht hat in dem Beschluss vom 07.11.2017 richtiger Weise festgestellt, dass das Fortdauern der Heimunterbringung des Sohnes seit der Rückkehr der Mutter in die DDR im Jahr 1968 der politischen Verfolgung gedient hat. Die Heimunterbringung war daher aufzuheben und mein Mandant für diesen Zeitraum zu rehabilitieren. Denn die Heimunterbringung war das Mittel, die Mutter zur Zusammenarbeit mit der Stasi zu bewegen. Die Unterbringung des Betroffenen zielte daher auch darauf ab, eine politisch intendierte Benachteiligung herbeizuführen. Unerheblich ist dabei nach der Auffassung des Oberlandesgerichts, ob sich der mit der Heimfortdauer verfolgte Zweck gegen die untergebrachte Person selbst oder gegen Dritte richtete. Eine Heimunterbringung ist nämlich auch dann als rechtsstaatswidrig anzusehen, wenn sie sich gegen Eltern oder Verwandte richtete.

Fundstellen: Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 07.11.2017, Az. 2 Ws (Reha) 13/16

Das Landgericht Potsdam hat mit Beschluss vom 12.05.2017, Az. BRH 33/15, BRH 36/15, die Heimeinweisung der zwei Betroffenen in unterschiedliche Kinderheime in der DDR wegen politischer Verfolgung als rechtsstaatswidrig aufgehoben. Es weicht damit scheinbar von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs ab. Der Bundesgerichtshof vertritt die Auffassung, dass eine Heimunterbringung der Kinder nicht als rechtsstaatswidrig aufzuheben ist, wenn diese allein aus dem Anlass erfolgte, dass die Eltern infolge ihrer politisch motivierten Inhaftierung an der Ausübung der elterlichen Sorge gehindert waren (BGH, Beschluss vom 05.03.2015, Az. 4 StR  525/13). Denn dann richte sich die politische Verfolgung nicht unmittelbar gegen die Kinder, sondern sei lediglich die Folge der politischen Verflogung der Eltern.

In dem von dem Landgericht Potsdam entschiedenen Fall hatten die Eltern versucht zusammen mit ihren beiden betroffenen Kindern im Juli 1971 von Bulgarien aus mit einem Faltboot in die Türkei überzusetzen. Bei diesem Fluchtversuch wurden sie festgenommen und inhaftiert. Die Eltern wurden von der Stasi vernommen und  wegen versuchter Republikflucht und Spionage zu Freiheitsstrafen von 7 bzw. 5 Jahren verurteilt. Die Kinder wurden seit der Inhaftierung der Eltern in Kinderheimen untergebracht. Bis auf einen Urlaubsaufenthalt bei der Großmutter und einer Tante blieben die Kinder bis zur Amnestie der Eltern im Heim. Die Kinder wurden im Februar 1973 aus den Kinderheimen zu ihren Eltern entlassen. Mehrere Verwandte der Kinder wären damals bereit gewesen, die Kinder bei sich aufzunehmen, wurden aber von den Behörden der DDR nicht gefragt, ihnen wurde vielmehr -wie den Eltern- die Unterbringung und der Aufenthaltsort der Kinder verheimlicht. Ein Briefkontakt der Kinder mit den Verwandten wurde von den DDR-Behörden verhindert.

Das Landgericht Potsdam hat die Heimeinweisungen der Kinder in dem Beschluss vom 12.05.2017, Az. BRH 33/15, BRH 36/15, für rechtsstaatswidrig erachtet, weil die Unterbringung der Kinder nicht allein dem Umstand geschuldet war, dass die Eltern wegen ihrer Inhaftierung die Sorge und die Erziehung der Kinder nicht wahrnehmen konnten. Die Kinder sollten vielmehr für den missglückten Fluchtversuch der Eltern mitbestraft werden, weshalb auch die Kotaktsperre erlassen wurde. Die Kinder sind deshalb wegen verhängter Sippenhaft selbst Opfer unmittelbarer politischer Verfolgung geworden und entsprechend zu rehabilitieren.

Fundstelle: Landgericht Potsdam, Beschluss vom 12.05.2017, Az. BRH 33/15, BRH 36/15

Das Kammergericht hat mit Beschluss vom 06.08.2015 ausdrücklich festgestellt, dass ein DDR-Urteil auch dann aufgehoben werden muss, wenn die Gerichtsentscheidung unter Verstoß gegen wesentliche, rechtsstaatliche Verfahrensgarantien zustande gekommen ist. Das kann der Fall sein, wenn Rechte des Beschuldigten z. B. aus Art. 5, 6 EMRK oder § 136a StPO bei den Ermittlungen bzw. dem Gerichtsverfahren missachtet wurden. Gerade der Tatbestand des Rowdytums (§ 215 StGB-DDR) wurde oft gegen Demonstranten angewandt. Die Annahme politischer Verfolgung liegt bei diesem Tatbestand insbesondere bei Urteilen nahe, die im Rahmen von Justizkampagnen gegen politisch missliebige „westlich orientierte“ Jugendliche ergingen.

In dem vom Kammergericht behandelten Fall, war der damals 16 Jahre alte Betroffene für die angebliche Teilnahme an Ausschreitungen an dem Nationalfeiertag der DDR (Tag der Republik) am 07.10.1977 auf dem Berliner Alexanderplatz festgenommen und später wegen Rowdytums zu einer Haftstrafe von 6 Wochen verurteilt worden. Bei dem Ereignis sollen laut den Auswertungen der Stasi Sprechchöre politischen Inhalts („Nieder mit der DDR“, „Honecker raus – Biermann rein“, „Mauer weg“, „Freiheit“, „Nieder mit dem Polizeistaat“, „Russen raus“), Fanlieder des Fußballvereins 1. FC Union Berlin und weniger politische Gesänge wie „Bullenschweine“, „Haut se haut se immer uff de Schnauze“ und „Nieder mit dem Bullenpack“ gerufen worden sein. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Treptow verurteilte den Betroffenen zu 6 Wochen Haftstrafe und 200 Mark Schadenersatz, weil er letztere mitgesungen haben soll.

In dem vorliegenden Fall ließ sich anhand der Unterlagen nachweisen, dass die Stasi Einfluss auf die Strafverfolgung ausgeübt hat. Das Strafrecht ist daher für sachfremde Zwecke instrumentalisiert worden. So wurde die Freiheit dem Antragsteller unter Verstoß gegen Art. 5 EMRK entzogen. Denn  die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls lagen auch nach dem damals geltenden DDR-Recht nicht vor. Damit war der Erlass des Haftbefehls willkürlich. Der Betroffen wurde zudem in seinem Recht auf Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. C EMRK) verletzt. Denn auch nach dem Verfahrensrecht der DDR hätte ihm damals ein Verteidiger bestellt werden müssen, was aber nicht geschehen ist. Stattdessen erhielt er lediglich einen Jugendbeistand.

Zudem wurde durch das Agieren der DDR-Sicherheitsorgane gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verstoßen. Die Vernehmungsbeamten wendeten gegen den Antragsteller verbotene Vernehmungsmethoden im Sinne des heutigen § 136a StPO an. Unmittelbar vor der Vernehmung wurde der Betroffene geschlagen und zu Boden gestoßen. Während einer Vernehmung wurde er bedroht, an den Haaren gerissen und ist in einer Haltung mit verdrehten Armen angeschrien. Ihm wurde in Aussicht gestellt, dass alles nicht so schlimm sei und er in Kürze entlassen werden würde, wenn er ein Geständnis ablege. Bei einer weiteren Vernehmung in der Untersuchungshaftanstalt wurde er angeschrien und mit jahrelangem Wegsperren und möglichen Schwierigkeiten für seine Eltern bedroht. Er musste Liegestütze machen, bis er nach Wegreißen seines Arms mit dem Gesicht auf den Boden aufschlug. Bei den Vernehmungen sind dem Antragsteller ganze Aussageinhalte vorgegeben und zu Protokoll genommen worden.

Die verhängte Strafe von 6 Wochen Haft zeigt, deutet weiter darauf hin, dass die Verurteilung sachfremd motiviert war. Denn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verhängung einer Strafe mit Freiheitsentzug und der Zusatzstrafe (Zahlung von 200 Mark) lagen auch nach dem DDR-Recht nicht vor. Die Urteilsgründe enthalten keinerlei Strafzumessungserwägungen. Es fehlt an jeglicher inhaltlichen Begründung nicht nur für die Wahl der Strafart, sondern auch für die Dauer der verhängten Haftstrafe, die das seinerzeit gesetzlich zulässige Höchstmaß von sechs Wochen ausschöpfte.

Das Kammergericht führt in dem Beschluss richtiger Weise aus: „Der den Gegenstand des Urteils bildende Tatvorwurf erscheint unter Berücksichtigung der Gesamtumstände konstruiert. Die Weichenstellungen für die (erwünschte) Verurteilung sind bereits bei der Sachverhaltsermittlung erfolgt, indem unter Verletzung grundlegender rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien ein Geständnis des Betroffenen herbeigeführt wurde.“ Die bewusste Missachtung der Beschuldigtenrechte deute zudem auf sachfremde Zwecke der Strafverfolgung hin.

Fundstelle: Kammergericht, Beschluss vom 06.08.2015, Az. 4/2 Ws 109-110/14 REHA

Heimkinder aus der DDR können sich bekanntlich für ihre Einweisung rehabilitieren lassen, wenn sie Opfer politischer Verfolgung waren oder wenn der Heimeinweisung sachfremde Erwägungen bzw. ein grobes Missverhälrnis zugrunde lagen. Die für die Rehabilitierungen zuständigen Kammern der Landgerichte neigen dazu, die Prüfung der Rechtsstaatlichkeit auf den Einweisungsbeschluss zu beschränken. Insoweit klärt der Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 16.05.2014 die Frage, ob auch ein bereits in ein Wohnheim eingewiesenes Kind für eine Verlegung aus einem Spezialkinderheim in einen Jugendwerkhof rehabilitiert werden kann. In dem zu verhandelnden Fall war die Verlegung durch die Aufdeckung einer versuchten Republikflucht des Betroffenen veranlasst worden. Er soll der Hauptinitiator einer geplanten Durchbrechung der Staatsgrenze nach Westdeutschland gewesen sein, bei der zehn weitere Jugendliche mitwirken sollten. Die poltisch-ideologische Haltung des Antragstellers wurde als ausgesprochen staatsfeindlich bezeichnet. Der Antragssteller soll daneben in dem Spezialkinderheim durch Normverstöße gegen die Hausordnung, Sachbeschädigungen, Zerstörungen, Entweichungen, Alkoholmissbrauch und deliktische Handlungen aufgefallen sein. Das Landgericht Erfurt hatte den Antragsteller für die Verlegung in den Jugendwerkhof wegen der versuchten Republikflucht rehabilitiert und die Anordnung der Unterbringung in einem Jugendwerkhof für rechtsstaatswidrig erklärt. Die Staatsanwaltschaft hatte beantragt, die Rehabilitierung abzulehnen und gegen den Beschluss des Landgerichts Erfurt Beschwerde eingereicht. Die Staatsanwaltschaft argumentierte in der Beschwerde u. a., dass der Antragsteller wegen seiner im Spezialkinderheim gezeigten Verhaltensauffälligkeiten früher oder später ohnehin in einen Jugendwerkhof verlegt worden wäre. Die geplante Republikflucht sei lediglich letzter Anlass der Unterbringung in dem Jugendwerkhof gewesen. Die Freiheit sei dem Betroffenen zudem bereits zuvor durch die Einweisung in das Spezialkinderheim entzogen worden. Das Thüringer Oberlandesgericht hat die Beschwerde der Staatsanwaltschaft mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Anordnung der Unterbringung in dem Jugendwerkhof „ohne jeden Zweifel Ausdruck einer politischen Verfolgung des Betroffenen“ war, „denn sie war die ‚von den Sicherheitsorganen verlangte‘ Reaktion auf die zuvor aufgedeckte Vorbereitung eines ungesetzlichen Grenzübertritts (Republikflucht)“. Ob der Betroffene aus anderen Gründen in den Werkhof verlegt worden wäre oder in dem Spezialkinderheim geblieben wäre, ist nach der Entscheidung unbeachtlich, weil es sich bei diesen hypothetischen Erwägungen um Reserveursachen handelt, die bei der Entscheidung keine Rolle spielen dürfen.

Auch bei einer Verlegung von einem Normalkinderheim in ein Spezialkinderheim wegen des Vorwurfes der Republikflicht nimmt das Thüringer Oberlandesgericht eine Rehabilitierung des Betroffenen vor (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 01.06.2011, Az. 1 Ws Reha 11/11 | 1 Reha 117/10 LG Erfurt).

Fundstellen: Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16.05.2014, Az. Ws Reha 21/14 | 1 Reha 122/13 Landgericht Erfurt; Beschluss vom 01.06.2011,  Az. 1 Ws Reha 11/11 | 1 Reha 117/10 LG Erfurt

Die Parteien CDU/CSU und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Die Gremien der CDU und CSU haben dem Vertrag bereits zugestimmt, das Ergebnis der Mitgliederbefragung der SPD wird in wenigen Tagen vorliegen, es ist also an der Zeit sich den Vertrag einmal genauer anzuschauen. Einige Teile der Übereinkunft werde ich hier in einigen Blog-Beiträgen vorstellen.

Für Opfer von Unrecht in der DDR gibt es eine positive Nachricht, die Parteien haben sich auf eine Steigerung der Opferrente geeinigt. Wie hoch diese ausfallen soll, lässt sich dem Vertrag jedoch nicht entnehmen. Opfer von DDR-Unrecht haben unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen (vgl. hierzu Rehabilitierung). Dringend benötigte Beweiserleichterung für die Wiedergutmachungssuchenden sieht der Koalitionsvertrag leider nicht vor. Auch gibt es keine Regelung zur Archivierung und zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der DDR-Strafakten bzw. der Unterlagen aus den Kinderheimen der DDR. Eine derartige Vereinbarung findet sich nur hinsichtlich der Frauenbewegung in der DDR und der Erhaltung des Archivs der DDR-Opposition. Zudem stellen die Parteien kurioser Weise in dem Koalitionsvertrag fest, dass es enorme Wissensdefizite bei Jugendlichen über die beiden deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert gebe. Für Opfer der DDR-Justiz, die haftbedingte Gesundheitsschäden erlitten haben, soll zudem die die medizinische Begutachtung verbessert werden. Etwas konkretere Vorgaben hätte man sich im Hinblick auf die Aufarbeitung und Rehabilitierung von DDR-Unrecht im Koalitionsvertrag dann doch gewünscht.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen den Parteien CDU/CSU und SPD

Laut Presserklärung des Verwaltungsgerichts Berlin besteht ein Informationsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) auch für Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin mit Urteil vom 01.12.2011, Az. VG 2 K 91.11 entschieden, es gab damit der Klage auf Auskunft über die im November 2009 erstellte Ausarbeitung „Die Suche nach außerirdischem Leben und die Umsetzung der Resolution A/33/426 der Vereinten Nationen zur Beobachtung unidentifizierter Flugobjekte und extraterrestrischen Lebensformen“ des Wissenschaftlichen Dienstes statt. Das begründete das Verwaltungsgericht Berlin damit, dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages lediglich der Vermittlung von Wissen und Information diene, er selbst verrichte aber keine parlamentarische Arbeit. Der wissenschaftliche Dienst stellt somit eine Behörde im Sinne des IFGs dar und muss daher auch Auskünfte erteilen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat das Verwaltungsgericht die Berufung bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zugelassen.

Fundstellen: Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 01.12.2011, Az. VG 2 K 91.11; Pressemitteilung des Verwaltungsgerichts Berlin vom 01.12.2011; Vorbericht mit allgemeinen Informationen zum IFG

Wie berichtet, sind noch mindestens 13 Richter in Brandenburg tätig, die früher mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zusammengearbeitet haben. In meinem Blogeintrag vom 04.11.2011 hatte ich meine Befürchtungen bereits angedeutet, dass insoweit ein Zusammenhang mit der restriktiven Rechtsprechung der Gerichte zur Aufhebung von rechtsstaatswidrigen DDR-Gerichtsurteilen (Rehabilitierung) bestehen könnte. Jetzt hat der Justizminister Brandenburgs, Herr Volkmar Schöneburg, nach Medienberichten eingeräumt, „dass seit 1990 sechs von insgesamt 13 belasteten Richtern Prozesse geleitet haben, in denen es um die Rehabilitierung von DDR-Unrechtsopfern und die Rückgabe von Vermögen ging.“ Das OVG Berlin-Brandenburg hatte mit Beschluss vom 28. Oktober 2011, Az. 10 S 33.11, im einstweiligen Rechtsschutz entschieden, dass die Identitäten der Richter (noch) nicht offen gelegt werden müssen.

Fundstellen: Bericht in der Zeitung Potsdamer Neueste Nachrichten vom 16.12.2011, Blogeintrag vom 04.11.2011, Allgemeine Informationen zum Strafrechtsrehabilitierungsgesetz

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